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Rubrik: Der Essay

 

 

 

 

 

 

Der folgende Ausschnitt soll einen theoretischen Aspekt unter dem der Weltspielspiegel erscheint erläutern. Er stammt aus der Geschichte `Paul' und ist dort mit dem Titel `Herbstblätter' überschrieben.

Bergmannstraße

Berlin

Montag, 10.11.86

Da steht wie ein bestelltes Aufgebot die Schreibmaschine, mit ihrem leeren Blatt im Maul und wartet stumm, denn die Hochzeit findet nicht statt, die Gedanken wollen sich nicht vermählen, bleiben bockig, stehen schmollend in den Ecken umher und sehen nicht zueinander hin.

Das Altern ist ja der Auftrag Spiele zu erfinden, die den innersten, noch ziellosen Antrieb abzubauen verstehen, diesen Drang, der wir sind, noch bevor wir dem anderen begegnen, noch bevor wir uns als gezogen erfahren, getrieben in Richtungen, die wir selbst vielleicht nicht gewählt hätten, nur weil da anderes ist, weil da andere sind, auf die wir wirken, wir wissen es und wollen ja nicht die falsche Wirkung erzeugen, wollen keine Irrtümer, Mißverständnisse, wollen nicht verlacht werden, wollen etwas gelten dort beim anderen, wollen unsere Spur dort hinterlassen. Und doch kann man es ja nicht allem und jedem recht machen und wir verheddern uns aussichtslos, geraten in den Strudel unserer Vorsichtigkeit, unserer Lügen und Schwindeleien aus Not, in die Abgründe unserer Abhängigkeiten von der Gunst anderer, die uns zu Hochseilakten zwingt.

Doch vor all dem war das Spiel. Das intrigenfreie, aus sich selbst geborene, zum Tun gebrachte Angetriebensein. Da war eine Neugier auf die Welt, ein Drang, sich seiner selbst und seiner Möglichkeiten zu bedienen, sich zu bewegen, Hände, Mund, Denken, Vorstellungswelt. Da waren Tagträume, die keine unerfüllten Wünsche zum Inhalt hatten, sondern die nur spielten, die Möglichkeiten durchliefen weil es diese gibt, weil es lustvoll ist sie durchzudenken, den Bereich abzustecken, den die abstrakte Vorstellung noch erreichen kann und der so weit ist, daß wir längst nicht mehr erwarten, ihn noch in der Wirklichkeit erleben zu können. 

An ihrer eigenen Einfallslosigkeit werden uns die anderen schal, wir sitzen vor ihnen und sie langweilen uns im Grunde nur noch mit ihren lächerlichen Anekdoten, über die wir hinausgreifen wollen, damit unser Denken nicht verklebt wie bei einem Gang durch eine Eigenheimvorstadt. Wir brauchen uns nur auf unsere Spiele zu berufen, schon hebt eine leichte Faszination unsere Beine, schon lassen wir die trübsinnigen anderen weit hinter uns und jagen mit der immer schneller werdenden Welt davon, bleiben auf dem Laufenden und ertrinken nicht in der Gewordenheit, die noch zu fressen bleibt und die so schwer verdaulich ist.

Als Spiel bezeichnen wir hier nicht das stellvertretende Ausprobieren einer Strategie, nicht die Etüde, nicht die Kopie und nicht den reglementierten, verkodisierten Wettbewerb, der unblutig den Besten ermitteln will.

Wir verstehen darunter das zu einem Tun werdende Sich-regen-Wollen des Geistes, welches als völlig unmotiviertes Phänomen aus sich heraus vorliegt, zunächst keinem Zweck folgt, sondern das erste ist was wir in einem Menschen vorfinden, zusammen mit der Urangst, die in entgegengesetzter Richtung wirkt. Es ist das im Menschen, das ihn in die Welt hinaustreibt ohne ihm aufzutragen, sie zu erobern, sondern nur, sie auszukundschaften. Ein Ausdehnen, das nicht Macht werden will, sondern nur Bewegung.

 

Die spielerische Bewegung ist lustvolle Auflösung dieses Sich-regen-Wollens des Menschen. Sie hat eine körperliche und eine geistige Komponente, doch tendiert zuletzt zum bloß Abstrakten. Sie bleibt bis zuletzt immer auch körperlich, denn es ist der Körper mit seiner sinnlichen Wahrnehmung, der der erste Schlüssel des Menschen zur Welt ist. Ohne die Wahrnehmung verfügte der Geist nicht über die Spielsteine des Abstrakten. Er hinge völlig leer, von der Verdammung zur absoluten Unbeweglichkeit unendlich gequält, im Schwarz, im

Geräuschlosen, in der Bewegungslosigkeit, ohne Zeit und Raum zu kennen. Der Geist wäre dann nur Qual. Ein festgehaltenes Sich-regen-Wollen. Ein physikalisches, metaphysisches Potential, das keine Entladung erführe und unter diesem Zustand entsetzlich litte, man braucht nur daran zu denken, wie furchtbar die Langeweile sein kann und wie unendlich befreiend und lustvoll ein Spiel ist.

Man will im Alter nicht mehr erklären, man wird der Anekdoten müde, deren Strukturen man längst durchschaut, ebenso wie man die Wiederholungen der eigenen Lebenskatastrophen begriffen hat, die Kreise der eigenen Psychologie, die Determinanten des eigenen Verhaltens. Und doch bleibt ein Bedürfnis, sich zu regen. Diese Regung ist nur im Spiel möglich, sonst macht man sich als alternder Möchtegernabenteurer lächerlich.

Taju, der junge König, erfand das Spiel der Ornamente aus Geist, das Schreiben. Paul erfand Taju, erfand sich die Spiele vom Idioten, vom Herrn Hölderlin, von der großen und der kleinen Zeit, von den Ameisenkulturen.

Maurice erfand sich das dunkle Singen, das sternenschwarze Nichts, den rotbebenden Schrei seines Herzens, sein ewiges Weiter. Hannah erfand sich ihre Begleiter, erfand sich Maurice, erfand sich eine Bewegung mit ihm, ein Schreiten in die Welt.

Ich habe sie alle erfunden. Die Spiele mit ihnen, zwischen ihnen. Habe sie erfunden, um meine Biographie unter ihren eigenen Bedingungen, ihren Verstrickungen gelingen zu lassen. Den tänzelnden, gerade noch die Balance haltenden Paul, um mit ihm gerade noch die Balance zu halten. Den in der Leichtigkeit verlorenen Idioten, um mit ihm in der Leichtigkeit verloren sein zu können. Den mit dem Mut der Verzweiflung nach dem Dunklen forschenden Maurice. Die mit hellen Idealen in die Welt hinausschreitende Hannah. Den jungen König Taju aus Pauls Geschichte, der aus der großen Zeit in die Geschichte spricht und der mit mir die Endgültigkeit spielt. Alle sind sie Figuren eines Spiels, in dem ich Welt spiele.

 Dienstag, heller Himmel, Hinterhof

Ein Spiel:

Sich selbst zur Figur machen, sich hineinkomponieren in die Welt, vor die Tür treten ins Tageslicht und denken: da stand er vor der Tür; wohin sollte er sich wenden ?

Die eigene Biographie ist ein noch laufender Roman, geschrieben in kurzen Abrissen, Gedanken, kaum eine Zeile lang, Blicke, kurz wie ein Wort und ebenso allein und heftig und ohne Zusammenhang. Episoden die untergehn wie eine gerauchte Zigarette, vergessen.

Morgens wacht man auf und der Wahrnehmungsapparat wird neu gespeist, darin noch eine Linie einfädeln zu müssen wird zu einer Aufgabe, die immer schwerer gelingt, wenn man sich nicht nur auf die Notwendigkeiten verläßt wie auf Arbeit, Nahrung, Reinlichkeit. Noch traumschwer hebt man zum ersten Mal den Kopf, blickt quasi aus der großen Zeit der

 

Traumzusammenhänge in die kleine Zeit der Tagesepisoden, wird wieder Momentmensch, dies tun, das tun, die langen Gedanken und die durch die Zeit greifenden Empfindungen der Träume und des ruhenden Liegens enden jäh an den kurzlebigen ersten Schritten in den Tagesablauf. Die kleine Zeit perlt kristallklar und glashart in die Sinne und damit ins Denken, die Geschwindigkeit ist geboren.

Man wird forwärtsgerissen in die Momentfabrik der kleinen Zeit und möchte doch träge und tief atmend noch einen Moment oder zwei in der großen Zeit verharren, warten, welche Impulse einem die eigene Neugier eingeben würde, mit denen man die kleine Zeit selbst füllen würde, freudiger, als im marionettenhaften Zucken an den Fäden der Notwendigkeit. Wer da herauswill, der fängt am besten ein Spiel an.

Ein Spiel beginnt man am besten in den Räumen aus Erinnerung, im langatmigem Zeitempfinden, der Losgelöstheit aus den schnellen Momenten der kleinen Zeit. Aus einer Befindlichkeit des Danebenstehens heraus. Da steht man zwischen den Gegenständen, den schweigenden Zimmerwänden, zu denen der Mensch auf eine Weise so gar nicht gehört, zu denen er mit seinem Menschsein in überhaupt keinem Zusammenhang ist, die ihm fremd und unerreichbar sind. Die ihm in der großen Zeit unter den Fingern zerbröseln zu Begriffen, die er endlos aufzählen kann. Himmel, Hinterhof, Wand, Lampe, Zimmer. Ja und ? Man wartet still. Und plötzlich legt sich ein Lächeln auf die Mundwinkel, eine Idee, ein Aufbruch. Ein Tun kündigt sich da an. Die große Zeit von einer frechen Nadel durchstochen, dem Klick eines Moments. Paul. Der plötzlich auf der Rauhfasertapete, auf die er momentelang gestarrt hat, eine eingeschneite Kultur erkennt, die er ausgraben will.

Wer spielt macht seine eigene kleine Zeit. Er produziert eigene schnelle Momente, die ihn auf die Geschwindigkeit der Welt beschleunigen können. ( Die Geschwindigkeit der Welt ist die rasche Folge einzelner, zerrissener Eindrücke ohne wirklichen Zusammenhang. Ihr einziger `Zusammenhang' besteht ja darin, daß sie von ein und demselben Wahrnehmungsapparat wahrgenommen werden ). Der Mensch ist gedrängt, mit dieser Weltgeschwindigkeit mitzuhalten. Sonst entsteht in ihm der Eindruck, von der Welt überrollt zu werden. Im Spiel, wo er lustvoll eine eigene Geschwindigkeit von Momenten der kleinen Zeit hervorbringt, ist dem Menschen die Möglichkeit gegeben, aus sich heraus mit der Weltgeschwindigkeit mitzuhalten. Er läuft der Welt dann nicht mehr mühsam hinterher indem er sich verzweifelt bemüht, durch schnelle, von äußeren Notwendigkeiten geforderte Reaktionen mitzuhalten. Sondern er läuft ebenso schnell wie sie neben ihr her, oder überholt sie sogar. Das gilt vorallem für das humoristische Spiel. In einem solchen, wo Einfall auf Einfall prasselt, wo die überraschendsten Humorschübe uns überfallen bis uns das Zwerchfell schmerzt, sind wir so viel schneller als die Welt. Und es ist ein Gefühl der Selbstbehauptung, das uns davonbleibt.

Dieses Gefühl der Selbstbehauptung resultiert aus der Erfahrung selbstproduzierter Geschwindigkeit, schneller Abfolge von Momenten der kleinen Zeit, welche aus dem innersten Drang des Geistes, Bewegung zu werden, entstanden sind, und zwar in einer Geschwindigkeit, die der Weltgeschwindigkeit gleichkommt oder sie sogar übertrifft. Unser eigenes Streben ist dann schneller als die Welt. Produziert eine höhere Geschwindigkeit. Aus sich heraus, nicht als Antwort auf eine Notwendigkeit. Diese eigene Geschwindigkeit benützt die Weltimpulse, wird nicht mehr von ihnen vorwärtsgerissen,

 

 

sondern greift sie sich, schneller als diese sich von selbst einstellen würden, um eine Bewegung konkret werden zu lassen.

Ein Weltimpuls ist eine Wahrnehmung. Eine Erinnerung an eine Wahrnehmung. Ein Reiz, auf uns einstürzend, dem wir nicht entgehen können. Unsere Ohren können wir nicht verschließen. Unsere Hautoberfläche spürt Berührungen. Unsere Augen sehen Millionen Einzelheiten. Unsere Erinnerung gibt uns völlig unkontrollierte Impulse ein. Dieses Auf-uns-Einstürzen, das uns Weltgeschwindigkeit suggeriert, erdrückt uns, wenn wir es nicht verstehen, die Bewegung umzukehren und einen Sturz aus uns hinaus zu produzieren. Dieser Sturz aus uns hinaus ist das Spiel. Im Spiel sind wir ein kleiner Rest Eigenheit, indem wir eine Umkehrung des Weltsturzes in uns hinein sind. Die Souveränität des Spielers, die lediglich darin besteht, daß ihm sein Spiel bewußt ist und er noch auf dessen Verlauf Einfluß hat, unterscheidet ihn vom Gehetzten, Gejagten, der auch den Weltsturz umkehrt, doch ohne dieser Umkehrung eine eigene Nuance geben zu können. Der Weltsturz prallt am Gehetzen quasi nur ab und schleudert ihn in von ihm nicht mitbestimmte Richtungen, während der Spieler den Weltsturz verdaut und in Richtungen umkehrt, die er mitbestimmt.

Der Spieler spürt zunächst keinen Sturz. Er horcht still auf die große Zeit, welche nicht auf einer Kette aufgereit ist wie die kleine Zeit. Im Raum der großen Zeit verspürt er dann eine Regung, eine Neugier, eine Lust. Eine solche Regung greift nach einem Weltimpuls, ohne ihn einfach beantworten zu wollen, sondern um ihn in einer Verknüfung mit anderen Weltimpulsen zu einer lustvollen Bewegung zu machen. Die Regung im Spieler möchte Bewegungen schaffen, noch bevor sie von der überflut aus Weltimpulsen gefordert würden. Bleibt diese Regung aus, so verharrt der Mensch, der später ein Gehetzter sein wird, bis der Sturz der Weltimpulse beginnt so stark zu werden, daß er von ihm umhergetrieben wird. Die Weltgeschwindigkeit überholt ihn. Er läuft der Welt hinterher, ohne sie je wieder einholen zu können. Sie ist ihm zu schnell geworden. Nur der Spieler kennt keine zu schnell gewordene Welt.

Das Spiel ist Einfall ohne Überlegung, ein selbstvergessenes Singen ohne den Zweck der Präsentation, eine schöne Vorstellung ohne Absicht zur Flucht. Es ist völlig leicht und ohne Verpflichtung, daher kann es in jedem Moment ohne Verlust abgebrochen werden. Kann ein Einfall, eine Vorstellung nicht mehr abgebrochen werden, sind wir in den Ernst oder gar die Manie geraten. Das Spiel ist jederzeit abbrechbar. Es ist jedoch eine Manie des Spielers insofern, als daß er immer wieder zu ihm zurückkehren wird. Sobald die Weltgeschwindigkeit droht, ihn zu überholen. Doch rührt die Manie nicht von ihm her. Sie ist begründet in der Permanenz der Weltgeschwindigkeit. Die immer weiter macht. Die er in seinem Spiel nur für Augenblicke überholen kann, welche ihm dann erlauben, das Spiel wieder abzubrechen, weswegen es doch ein Spiel bleibt. Die Manie ist das Wiederbeginnen, erzwungen durch das manische Weiter der Welt. Je schneller die Welt weiter macht und je größer ihre Geschwindigkeit dabei wird, desto öfter muß der Spieler zu seinem Spiel zurückkehren. Und so ist der Spieler ein typisches Produkt unserer Zeit, die mit größer und größer werdender Geschwindigkeit weitermacht und deren Weltsturz heftiger und heftiger in uns hinei nbricht.

 

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 Norwegen 1990 - Reisebericht ( 21. Mai - 02. Juni 1990 )

Wer hätte gedacht, daß es in Europa ein solches Land gibt ! Die Leere und die Erstreckung Norwegens richtet sich an den Blick des Reisenden, wie die straßendurchfurchten Weiten Nordamerikas. Wenn sich nach stundenlangem Schweigen und Schauen über unberührte Wildnis plötzlich eine Siedlung an der einzigen Straße entlangzieht, werden die Hinweisschilder mit ihren Zeichen seltsame Boten, wie von einer Menschheit. Die Worte auf diesen Schildern zu fremdartigen, im ersten Moment undeutbaren Verkündigungen von einem jahrtausendealten Bemühen dieser Menschheit, das sie auf diesem Planeten immer mehr zu Fremden gemacht hat, deren Existenz scheinbar nur noch mit dem Wort: `merkwürdig' beschrieben werden kann. Und doch leben die Norweger so einfach und selbstverständlich in diesen Landschaften, wie vielleicht kein anderes modernes Volk in den seinen. Die Bescheidenheit eines Holzhauses an einer Hangwiese über dem Wasser die im Norden des amerikanischen Kontinents unweigerlich mit einem zweifelhaften Heldentum und Pioniergeist durchsetzt ist, ist hier rein und klar und ohne Zusätze. Es mag der einfache Unterschied zwischen dem Fallensteller und dem Fischer sein, der noch heute den modernen Norweger zu einem so angenehmen Menschen macht. Die Sæter der Osloer an der Küste weit über dem Polarkreis sind so nicht etwa die Sommersitze einer das Abenteuer träumenden Zivilisation. Es ist nicht einmal eindeutig zu erkennen, welches dieser Holzhäuser nur ein Sommersitz und welches immer bewohnt ist, auch in der langen Nacht der Polarwinter. Denn die auf der Karte zu einem kleinen weißen Kreis gemachten Ortschaften sind für den Durchreisenden oft als solche

 

nicht erkennbar. Die Straße windet sich um die Küstenschleifen. Und am Wasser und an den Hängen stehen weit verstreut die Häuser, die doch immer Hütten geblieben sind.

Dazwischen die Leere des Landes: völlig unbewohnte Hochebenen, lange Täler mit unberührten Gletscherseen. Wenig Begegnungen, wie beim Durchfahren einer Wüste. Fahren, Leere und Blick komponieren eine norwegische Choreographie: Auftritt und Tanz der Landschaften. über einen Hügelkamm in eine andersfarbige, in noch wilderem Licht glitzernde Leere. Drehung eines Tales um einen Berghang: plötzlich, Flugzeuge tief weit unten die Fjordfähre. Weiter Blick in den Meeresarm mitten im Gebirge: Nadelhölzer und klitzekleine Fabriken, umgestürzte Öltanks, schon verrostet und als Geräteschuppen benützt, doch in der Weite verloren, kaum erkennbar. Dahinter die Öffnung zum nordatlantischen Meer. Auf einer Brücke über den Fjord, unter der Ozeanriesen klein sind wie Lastkäne. Die kleine Straße im Steigflug hinauf zur Steinwiese, vierhundert Meter über dem Meer: der Blick die Küste hinunter streicht über eine unbewohnte Linie. Nur in kleinen Einbuchtungen ein paar Holzhütten.

Ende Mai sind die Hochebenen teilweise noch völlig schneebedeckt, die Hochseen zugefroren. Eisschollen brechen ab und triften auf den schmelzwassergespeisten Gewässern. Blau und weiß. Schneefelder liegen noch in den Hängen. Das reine Weiß zieht die Farben des Himmels und des Eises bis in die Frühlingswiesen herunter wo es hemdsärmlig warm ist. Es gibt in Europa nur noch wenige solcher Wiesen: sie

 

sind unvergiftet und reich an Arten. Granitblöcke liegen darin, wie aus einem Marmorbruch. Moose und Flechten wachsen über den Fels, und in den Lawinentrümmern, oft groß wie Häuser, wachsen kleine Birken aus den feuchtdunklen Spalten der Steine, während sich sonst noch kein Grashalm dort festhalten konnte. Lawinen haben große Wunden in die Hänge gerissen. Die Katastrophe muß viele Jahre her sein, denn die Straße zieht sich durch das Trümmerfeld, unbekümmert wie eine Eintagsfliege. Aus über den Fels herabziehenden Wolken erstreckt sich das Lawinenfeld bis tief unter die auf halber Hanghöhe laufende Straße. Der Räumlichkeitssinn vermag das Gesehene nicht mehr aufzuschlüsseln. Die Alpen sind vielleicht großartig. Norwegens Hochtäler und Fjordeinbrüche sind unfaßbar. Wenn es eine Natur gibt in Europa vor der man Angst bekommen könnte, dann in Norwegen.

Die Drehachse der Erde steht nicht senkrecht auf ihrer Bahnebene um die Sonne. Sie ist geneigt. Der Erdnordpol ist im Winter von der Sonne fortgeneigt. Im Sommer der Nordhalbkugel neigt er sich der Sonne zu. So weit, daß in der Mittsommernacht alle Orte, die nördlich des Nordpolarkreises liegen auch dann noch von der Sonne beschienen werden, wenn die Erddrehung diese Orte von ihr weg gedreht hat. An diesen Orten scheint dann die Sonne um Mitternacht über den Nordpol hinweg aus nördlicher Richtung. Die klaren Farben, die der Himmel des Nordens einer Landschaft und einem Himmel verleiht, liegen dann in der stundenlangen Dämmerung der Morgen und Abende. Und die Nächte sind still, wie Nächte sind, wenn auch die Dunkelheit nicht über sie kommt. Diese

 

merkwürdige Paarung der langen Dämmerungen, des goldenen Schummerlichts und der völligen Stille einer Nacht legt einen so fremden Zauber über das Land, daß es schwer fällt zu glauben, man sei noch in Europa.

Man geht auf einen Hügel und sinkt tief in den Flechten ein. Braun gelb violett schwarz rot hellgrün weiß blauweiß matt. Nur die Straße, kein Haus. Tiefer Himmel, Graugold. Aus klarweiter Entfernung Vogelpfeifen. Daß in dieser Stille etwas lebt ! Viel nasses Glitzern, Tröpfeln, Glucksen. Ungewohnt gefärbtes Gestein, ein Blau, wie direkt aus dem Weltall. Wir sind in vier Tagen ans Nordkap gelangt. Die Stille und die Schönheit des Landes brechen plötzlich und heftig über einen herein, wenn man Tage und Nächte hindurch nur immer gefahren ist.

Die Nacht am Nordkap wird wie das Anhalten eines Lebens. Ein Atemholen und plötzliches Erkennen, daß es nur eines kleinen Schritts bedarf, um für immer in die Stille zu treten. Ein kleiner Schritt über eine Klippe hinaus.

Ich bin sehr schweigend durch diese helle Nacht gegangen. Ich habe nichts mehr erwogen, nichts mehr resümiert. Ich habe nur wehrlos auf die Gefühlsbilder aus einem Leben gestarrt, die ohne Wortgedanken flimmerten, wie frühe Stummfilme. Ich habe auf das Warten gelauscht, bis es mir noch einmal meinen Atem schenkte. An einem solchen Ort, wo das Schweigen des Weltalls bis an die Steine greift, wird einem das Leben zu einer traurig belächelten Belanglosigkeit. Es gibt von so einem Ort im Grunde kein zurück. Wir fuhren zurück und ich nenne es jetzt lächelnd ein großes Geschenk. Dort, in der Polarnacht war es das geschenkte Leben.

 

 

 

 

 

 

 

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Ach Herz

 

 

 

 

 

 

Um uns nicht gleich in die allerliebste Verzärtelung oder das Herzeleid mitteleuropäischen Kulturverständnisses zu begeben, wollen wir hier eine markante Erfindung der Menschheit voranstellen, gewissermaßen in Erinnerung rufen: den religiös rituellen Brauch mittelamerikanischer Indianervölker, einem Opfer bei lebendigem Leibe das schlagende Herz aus der Brust zu reißen und das noch zuckende Stück Muskelfleisch auf einem Opferstein zu zerreiben.

Daß man die Opfer vor dieser, zugegeben mit rigorosester Sorgfätigkeit betriebenen Vernichtung einer Menschenseele, vor dem delikaten Eingriff noch dazu zwang zu tanzen, entbehrt nicht einer gewissen Einsicht in die höhere Tragikomik irdischen Seins und bezeugt sicherlich ein filigraneres Verständnis von den Furchtbarkeiten des Lebens und des Todes, als dies der an selbigem Orte vom Bringer europäischer Kultur Hernan Cortez erfundene Foltertod bezeugt, bei dem einem Opfer das Schädeldach weggemeißelt und erst über einigen auf das Gehirn gelegten glühenden Kohlen wieder geschlossen wurde.

Doch wir wollen uns hier nicht in der sinnlosen Diskussion ergehen, welche Kultur nun die niedlichere ist und uns wieder zeigen könnte, daß wir Menschen halt doch auch gut sind. Wir denken an die noch warmen Fleischfasern auf den Opfersteinen hier nicht, um etwas über die mittelamerikanischen Indianerkulturen zu sagen, sondern etwas über das Herz.

Wir müssen es ja alle zugeben:

 

Die Vorstellung des oben erwähnten religiösen Brauchs erweckt ein Grauen, das mit keinem Hinweis auf die rituelle Umgebung des Vorganges getröstet werden kann, denn die Erfindung dieses Brauchs ist schlichtweg meisterhaft und von endgültiger Härte und Grausamkeit. Welches Menschenwesen, in dessen Brust so ein Herz schlägt, und zwar so an die 100 000 mal an einem Tag, könnte ohne Grauen von einem solchen Brauch hören. Darin liegt allein die Meisterhaftigkeit dieser ausgeklügelten mittelamerikanischen Priestererfindung. Und die Grausamkeit des Vorgangs wollen wir in einen größeren Rahmen stellen als den einiger blutüberströmter Handwerker der Götter. Wir denken an die Grausamkeit des Menschen und seiner Welt, die ihn hervorgebracht hat.

Spätestens seit Darwin hat es auch das aufgekärte Europa wieder zugestehen müssen, daß wir mitten im Kampf der Arten leben, und daß innerhalb der Arten noch der Krieg der Individuen tobt. Wenn ein irdisches Wesen das andere packt, das sterbende Opfer mit seinen Zähnen zermalmt, während dessen Herz seine letzten, wilden Schläge tut, so gehört dieser Vorgang eigentlich zur stinknormalen Tagesordnung der Welt. Und der empfindsame Denker kommt nicht daran vorbei, daß so, und eben nur so, die Welt aufs Grausamste ihren Arten die Nahrung sichert. Ob nun die Indianer Mittelamerikas noch recht taten, wenn sie das Herz eines Menschen zermalmten        ( und ihn anschließend verzehrten, obgleich sie auf den Verzehr seines Fleisches für ihre Ernährung allein nicht angewiesen waren), wollen wir

 

dahingestellt lassen. Uns ist nur wichtig, daß es geschehen kann daß ein Wesen das andere zermalmt. Daß da Herzen in einer Welt schlagen, die sie herausreißen und zermalmen kann, erbarmungslos und ohne Gerechtigkeit für den Einzelnen. 

Mitten in einer solchen Welt schlägt nun das eigene Herz. Und endlich wollen wir denn auch in die Tiefen seiner Rührungen und seiner Wehrlosigkeit hinabsteigen. Da schlägt nun das kleine Herz so emsig in der Brust, wie erwähnt etwa 100 000 mal im Verlauf eines einzigen Tages, und sucht sein stilles Glück und seinen Frieden. Mit der liebenswertesten, blindesten Wehrlosigkeit erliegt es dabei immer wieder seinen unbegreiflichen Rührungen. Dem Erwachsenen geht es dabei keinen Deut besser als dem Jugendlichen, der noch sehr an die Regungen seines Herzens glaubte. Denn so abgeklärt der Erwachsene sein mag, auch er erliegt diesen für den Außenstehenden oft unbegreiflichen, zuweilen dümmlich anmutenden Rührungen seines Herzens wie ein frischverliebter Backfisch, dessen entflammtes Herz dann von einer unfreundlichen Welt munter auf einem Opferstein zerrieben wird.

Gewiß, der Vergleich dramatisiert die vergebliche Liebesmüh auf ein Niveau, wo sie nicht hingehört. Verschmähte Liebe ist geradezu niedlich und harmlos angesichts des Menschenherzopfers. Und doch treibt sie Herzen zuweilen in den Tod. Sie kann den Mut und die Lebenskraft eines Menschen nachhaltig zerstören, ihn und seine ganze Existenz auf eben nur dieses kleine, in der Brust noch schlagende Herz reduzieren, das gegenüber einer Welt mit ihren Gesetzen so

 

 

verletzlich ist.

Ach Herz. Da liegt man und starrt auf die Zimmerdecke oder ins Dunkel und hört es schlagen. Fühlt es eher, als daß man es hört und doch scheint es ein Geräusch in der Stille zu machen. Ein Geräusch, das man auf eigentümliche Weise ist. Stück Leben, Zuckung gegen den Tod. Was treibt so ein Herz zum Schlagen ? Ist diese Frage nicht wichtiger als die nach der Identität ? Da schlägt es also und wird eben nicht zerrieben und man muß weiter. Die verschmähte Liebe und die zerbrochenen Träume kehrt man flugs unter den Zeitteppich, man atmet einmal tief durch und wendet sich wieder der Welt zu, denkt an die lange Zeit, die schon vergangen ist, an Menschenopfer, an friedlichere Begebenheiten, an Belangloses, schreibt einen Weltspielspiegel. Und brav und noch verläßlich schlägt das kleine Herz seine guten 100 000 mal am Tag ohne von all dem zu wissen. Man lächelt leicht gerührt und ist diesem emsigen kleinen Ding dankbar, das wie ein Buster Keaton immer wieder aufsteht und weiterhastet. Und schließlich ist man selbst dieses Weiter, das nicht anhält solang man auf dieser rollenden Kugel umherhüpft, man muß mit, tut es ja auch gerne, hält seinen Platz, treibt seine Spiele, erledigt die Notwendigkeiten, läuft zutraulich in die Begegnungen hinein, lacht, gewinnt, verliert und bleibt am Drücker eines Lebens, solange eben das Herz schlägt. Und da es eben gegen zwölf Uhr Mittags ist, hat es wohl gute 50 000 Schläge für heute runter.

Gönnen wir uns, was sich der kleine Apparat niemals gönnt: eine Halbzeitpause.

 

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Ins Jahrzehnt der Titte

 

 

 

 

 

 

Es hatte sich durch die Achzigerjahre hindurch unaufhaltsam angekündigt und bricht nun hemmungslos und ohne Skrupel aus: das Jahrzehnt der Titte. Jede noch so unansehlich gewachsene Frau, die Altersobergrenze verwischt sich bei Ende 30, hängt in der Nachsaison der Sechziger Jahre und der in den Siebzigern vehement verfochtenen Unverkrampftheit die

 

fleischwabbernden, unförmigsten Früchte des Unästhetischen schamlos ins   T-Shirt, dessen viel zu weiter Achsel- und Halsausschnitt Luft und Frische, aber leider auch den Blick hineinlassen, ob nun einer will oder nicht. Daß sich dem Auge dabei ab und zu sogar ein durchaus ästethischer Anblick bietet, hält die Redaktion des Weltspielspiegels für reinen Zufall. Denn es will

 

angesichts des fleischigen Gewabbers doch so scheinen, als sei die Ästethik bei dieser `Befreiung' völlig aus dem Blickfeld geraten. Eher pöbelhaft ungezwungen fleischt da Körper zur Luft und, wie erwähnt, eben auch zum Blick.

Erklären wir uns also im Jahrzehnt der Titte und weisen wir gleich die richtige Richtung: noch ein gutes Stück weiter von

 

jedem Feingefühl und jeglicher Ästhetik weg hinein ins Reich des internationalen Verschlampens und Dummiezens. Beglückwünschen wir den Glücklichen, dem dabei durch reinen Zufall die Gnade eines schönen Anblicks zuteil wird und erst recht den Unästheten, dem tittiges Gewabbel in jeder Form irgendwo südlich des Bauchnabels in die Organe fährt.

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Letzte Lust

 

 

 

 

 

 

Wenn einem, was ja ein jeder kennt, die sogenannte reale Welt mit ihren Dingen, die so handfest ( oder handgemein ) sind, schließlich die letzte Lust auf einen Zugriff und Genuß verwehrt hat, dann steht es schwierig darum, noch eine wirkliche Lust zu erleben. Sicherlich bleibt einem die schöne Vorstellung, doch der kurze Moment ihrer Lust bleibt nicht nur körperlos, sondern verschwindet ins Nichts einer Weltgeschichte im Moment seines Vergehens. Nichts hält man nach einer bloßen Vorstellung schließlich in Händen, alles nur Luft und Wind.

Doch irgendwann hat die Menschheit, wenn auch zunächst zu recht derbfunktionalen Zwecken, die

 

Schrift entwickelt. Und damit ist uns, die wir begabt sind unsere Gedanken in Sprache zu formulieren, ein einzigartiges Instrument an die Hand gegeben, als frustrierte und verängstigte Erfahrungsgeschädigte doch noch einmal eine wirkliche Lust zu erleben: die Lust des Formulierens.

Wir beglückwünschen an dieser Stelle den Künstler ( und zählen durchaus den armen Schriftsteller dazu ), der in seiner Kunst sicherlich einen ganz ähnlichen, sich natürlich auf höherem Niveau tummelnden Vorgang erlebt.

( Wir selbst zählen uns natürlich nicht dazu ). Denn wer formuliert, der ist nun wirklich noch lang kein Künstler. Er

 

spielt mitunter nur. ( Und nur dazu zählen wir uns, zu den Spielenden ). Doch ist selbst das niveaulose Formulieren, zumal auf Papier, eine recht wirkliche Lust, sofern man nichts weiteres im Blickfeld hat als eben das Formulieren. Wer gerne Briefe schreibt, dem ist dies sicher nicht unbekannt. Vielleicht hat man im Grunde nichts zu sagen, zumindest wäre es egal, es auch nicht gesagt zu haben, aber da stehen die Worte auf dem Papier und sehen einfach fabelhaft aus. Da ist man Urheber von Sprache ( die man ja nicht selbst erfunden hat ), die Worte legen Zeugnis von einem ab, von dem Moment, in dem man die formulierten Gedanken hatte und eben auch von der Lust dabei, die nicht einfach in die lange Zeit verschwindet. Man spielt die Sprache wie ein

 

Musikinstrument, improvisiert eine eigene kleine Melodie. Und wie es eben beim Improvisieren so ist: dem Spieler des Instruments macht es Freude ( die vom Zuhörer nicht immer geteilt werden kann ). Nur die Grundregeln des Improvisierens sind andere, als bei der Musik: die Sprache, die Einfälle, die Auswahl aus der Gedankensuppe. Sind Sie also einer der Menschen, die zu nichts mehr so recht Lust haben, dann könnte das Formulieren auf Papier auch für Sie noch die letzte Lust sein. Wir raten: beginnen Sie mit Briefen oder kuzen Essays. Sie kennen ja die Kurzglosse aus ihrer Tageszeitung ( und was da so professionell gelangweilt hervorgezaubert wird, das gelingt Ihnen auch ! ).

 

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Abgesang

 

 

 

 

 

 

Da sie nun naht, die allerletzte Stunde des August 1990, neigt sich diese Ausgabe des Weltspielspiegels ihrem Ende zu. Wir heben den Kopf, lauschen auf die Geräusche der Nacht, die durchs geöffnete Fenster hereinwehen und bedenken, etwas melancholisch, daß es nie mehr in der endlosen Geschichte des Universums einen August 1990 geben wird.

 

 

Denn schon saust unser Planet weiter um seine Sonne und auch die bewegt sich mit der Drehung unseres Spiralnebels im Raum herum und wir werden nicht einmal mehr eines Tages denselben Ort erreichen, an dem wir in dieser nun angebrochenen letzten Stunde des Augusts 1990 sind, geschweige denn diese eine Stunde selbst.

 

Etwas betrübt stellen wir fest, daß es damit auch nie mehr eine Juli/August 1990 - Ausgabe des Weltspielspiegels geben kann, an der wir so eifrig und mit Vergnügen gebosselt haben. Wir trösten uns also mit eben dieser Einzigartigkeit in den unendlichen Tiefen der Zeit, die auch unser Weltspielspiegel ( Heft Nr. 2 ) dadurch erlangt, daß alles fließt und uns kleinen

 

Erdenwichten nichts bleibt, sondern all unser Werk und unser Sein unter unseren Fingern zerrinnt ohne Wiederkehr. Nun beginnt in der unbegreiflichen Dramaturgie des meteorologischen Theaters auch noch ein schwerer Regenschauer mit Donnertüschen und wir nehmen dies Geschenk des Himmels gerne an.

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Augenreise

 

 

 

 

 

 

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Ginge es nach unserem oberflächlichen Eindruck und unseren einfachen sprachlichen Vorstellungen, dann wären wir alle alte Kenner unserer Welt und der Länder, die wir bereist haben. Aber eine Komplettheit zu beanspruchen wenn wir von einem Land oder einer Stadt reden dürfte uns niemals einfallen. Wir nennen Welt, was wir von ihr gesehen haben und was wir in Vorstellungen ergänzend zu den wenigen tatsächlich gemachten Beobachtungen und Wahrnehmungen hinzufügen. Doch in Wirklichkeit kennen wir von dieser Welt, und hier ist zunächst nur die geographische Welt gemeint, nur winzige Teile, oder besser : aus dem riesigen unbekannten Terrain ausgeschnittene Bahnen des Gesehenen, Bereisten, Beschrittenen. Nicht einmal einen Stadtteil kennen wir je, nur Straßenzüge, Höfe, Hausflure, ein paar Zimmer. Wir erinnern uns an was wir dort gesehen haben. Auf diese Weise schneiden wir unser Blickfeld entlang unserer Wege durch die ganze Welt und sollten vorsichtig mit der Behauptung umgehen, wir kennten ein Land, eine Gegend oder eine Stadt. Unsere Augen sind geschweift, haben uns Blicke gefangen, die uns manchmal bleiben, vorallem wenn wir diese Blicke mit Gedanken gemengt haben. Dann finden wir sie auch oft nach Jahren, manchmal zu unserer Überraschung, wieder. Doch wir

 

 

wissen fast nichts von den Plätzen, die wir gesehen haben.

Mein Aufenthalt in England im Jahr 1973 war in einer Hinsicht meine erste Reise: es war die Zeit der ersten großen Einsamkeit eines allmählich jugendlich werdenden Kindes. Es war die Zeit, als die Musik begann: das leise Singen auf den Spaziergängen allein. Ich war vierzehn Jahre alt. Als die Wolken aufrissen zeigte sich Grün. Graue Bänder darin: die Straßen, wo sie links fuhren. Ich sah die roten Ziegelhäuser von sehr hoch oben aus dem Flugzeug. Der graurissige Beton des Flughafens Luton meine erste Berührung mit dem Land meiner Zaubersprache.

Im Bus saß ich zunächst alleine. Ich wollte es so. Ich weiß nicht mehr, was ich sah. Doch ich schaute wortlos und ohne eine Sekunde unachtsam zu sein. Nichts war beiläufig. So schnitten meine Blicke ein Stück der Strecke von Luton nach Dartmouth aus dem Land heraus. Ich blickte nach links aus dem Fenster, bis sich ein Mädchen zu mir setzte. Wir hatten uns ineinander verliebt. Der Busfahrer, ein alter Mann mit feinen Aderrissen unter der Gesichtshaut, schaltete und arbeitete schwer an einem überdimensional großen Steuerrad. Der Bus war alt. Kein Überlandbus, wir hatten eine Panne gehabt und ein Stadtbus war geschickt worden. Spät kamen wir in einem schlafenden Dartmouth an. Der Mann meiner Gastfamilie fuhr mich wortkarg zum engen Haus in der Fairview Road. Die Frau, blondgelockt, mit großen Augen, im wässrigblauen Morgenmantel in der Küche. Ich war ganz befangen. So viel Freundlichkeit hatte ich nicht auch noch erwartet.

 

 

Im ersten Wagen hinter der Lok bekommt man oft auch in vollen Fernzügen noch ein Abteil allein. So saß ich von Paris-Montparnasse bis Nantes allein am Fenster, schrieb und schaute. Füllte einen Fragebogen der Societé Nationale des Chemins de Fer aus, der ich zu meinen Reisegewohnheiten auf dieser Strecke befragte. Ich erinnere mich auf den Blick hinunter auf die Loire bei Angers. Und wie wir in den Bahnhof von Nantes einfuhren, wie ich das Fenster öffnete und hinaussah. Die Gebäude Kästen. Drähte, Schienen, abgestellte Vorortzüge, wie überdimensionierte Modelleisenbahnwagen. Rund, mit bizzarren Blechen um die Scheinwerfer, was die Franzosen in den Fünfziger Jahren für schick gehalten haben müssen.

Etwa elf Kilometer unter uns zogen sich Häuserreihen durchs schottische Grün. Mir schauderte einen Moment, denn ich hatte mich gefragt, wie lange man wohl fiele, bis man dort unten aufschlüge, mitten im Land, das einem unerreicht und fremd blieb auf diesem Überflug von Paris nach Miami. Jahre später sah ich auf Fotos das abgerissene Cockpit der PA 103 bei Lockerbie in einer Wiese liegen, in diesem festen Grün der angelsächsischen Grasnaben. Nach meinen Spaziergängen durch die sanften, grasbewachsenen Chiltern Hills. Ich roch die feuchtbraune, torfige Erde, an meinen Handflächen die abgeschürfte Rinde der verwachsenen Birch Trees. Sah den feuchtkalten Wind in den Frühjahrszweigen. Lief viele Meilen weit über die runden Hügelkuppen und sah in Täler. Saß an kleinen Flüßchen unter den Trauerweiden und lauschte in das klarkalte Glucksen, bis mir

 

vor Einsamkeit schaurig wurde und ich mit schnellen Schritten die Landstraße entlangging, zwischen mannshohen Hecken. In die ersten Häuser Cheshams hinein, die so nah an der Straße stehn, daß man die Lastwagen beim Vorüberfahren von den Fensterbrettern aus berühren könnte.

Eine tropfnasse, grüne Dunkelheit zog sich unter den Bäumen hin, wie neblige Durchfahrt, eine enge, lange Passage, ein Tunnel. Ich hatte beschlossen, durch den Regen nach Hause zu laufen und nicht die UBahn zu nehmen. Denn etwas hatte mich angerührt bei diesem Blick unter der Baumkronenreihe hindurch. Im Zimmer sah ich den Bettrand und den Teppich, der von Bröseln und scheuernden kleinen Kiessteinen bedeckt war. Aus dem Fenster fiel mein Blick über den neonerleuchteten Platz auf die von innen beleuchteten Ladenschilder und die Fassaden, wie sie im Obergeschoß der Busse an einem vorbeizogen im Wippen des Wagenkastens. Kalte dunkle Blicke ohne Farben. Hell und bunt waren immer nur die Schaufenster und die Neonschilder. Blau der Tankstellen, Rot der Tankstellen. Der Kottbusser Damm, zwei Banderolen aus bunten Plexiglaslichtern in Höhe des ersten Stockwerks, mit übergroßen Buchstaben ohne Ornament. Nüchterne Mitteilungen, die in den Augen schmerzen. Nur von weitem bekamen diese Lichtquellen etwas Orientalisches. Doch sie waren immer nur Lichtbahnen im Schwarz.

< Konzept zu einer Erzählung: `Augenreise'. Etwa 1990 >.

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Straßen

 

 

 

 

 

 

Die Straßen ziehen einen Strich in die Weite oder enden abrupt an einer Mauer. Sie stoßen auf ein Netz aus sich selbst in den Städten und tauchen darin unter. Immer sind sie geduldiger als der, der sie beschreitet. Ihr Atem ist lang. Länger als der Atem der Kulturen, die sie gebaut haben.

Wir, die Beschreitenden dieser Straßen, lassen uns auf ihren geheimen Netzen beim Kennenlernen der Welt leiten. Wir leben unter dem Eindruck, diese Straßen zu wählen. Doch wahrscheinlicher ist, daß wir immer wieder nur ihren alten Verläufen folgen, ohne es zu beachten. Dabei wird von ihnen bestimmt was wir sehen, was

 

wir später behaupten zu kennen, was uns in diesem Leben begegnet.

Wo viele gingen entstand ein Pfad. Wieviele mußten es sein, bevor der Pfad zur Straße wurde ? Via Appia antiqua. Weiter gehen. Die Seidenstraße über Sardes und Susa und Persepolis bis ins chinesische Hochland. Ungängige Barrieren überwinden. Von Quito nach Cuzco über die Anden. Schneller. Immer glatter die Oberflächen, der Stein, der Teer, der Asphalt. Der die Richtungen trennende Mittelstreifen auf der Autobahn. Europa durchquert in zig Stunden.

 

 

Auf den Straßen ist unser Unterwegs beheimatet. Was wüßten wir von Entfernungen, von der Weite ? Wir haben sie erfunden, weil uns das Unterwegs treibt. Ebenso ruft ihr Anblick in uns ein Unterwegs an. Sie sind die Zeichnungen unseres Gehens auf der Erdoberfläche.

Wem nichts mehr zu tun einfällt, der sollte einfach den Straßen folgen. Es wird ihm gut tun wie kein Gebet, keine Disziplin, kein aus hohen Ansprüchen verfolgtes Handeln. Es bedarf dazu wenig. Ein Gefährt vielleicht. Eine übereinkunft zum Mitfahren. Dann erzählt sich wortlos eine lange Geschichte.

 

Unsere Geschichte. Wie wir den Horizonten entgegenzogen. Wie wir in die Weite schauten. Wie und wo wir siedelten. Wie wir fremd waren,vorbeikamen, einen Platz fanden, der uns angenehm. Wie wir nach einer Rast weitergingen, fort, umkehrten, zurückfanden. Wie das Gesehene in uns war. Die Schritte, die Meilen, die Hügel, Wälder und Ebenen. Die überquerten Bäche. Die Fläche der Seen. Wie vor uns das Band der Straße sich hinzog. Uns zu Blickenden machte, deren Worte verstummten.

< Konzept zu einem Essay: `Straßen'. Etwa 1990 >

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Das Reisen

 

 

 

 

 

 

Es war das Fremde in einer gleichförmig gewordenen Umgebung der westdeutschen Städte nach den Fünfziger und Sechziger Jahren. Die sauberen Vorstädte, die makellosen Häuser, die geometrischen Autobahnen. Es war die Sehnsucht nach einer Rührung des Unperfekten, die allein das Staunen ohne ein Entsetzen möglich macht. Es war die Antwort auf die westdeutsche Langeweile.

Das Reisen hat einen kleinen Bruder: das Fahren. Zuerst war es das Fahren in der Straßenbahn durch unbekannte Stadtteile, zum Kino oder Schwimmbad im anderen Stadtteil, das Hinaus über die Hügel und in die Wälder und Wiesen, und natürlich der erste Teil der ersten Reisen : die Fahrt zum Hauptbahnhof.

Was dort begann, war das völlig Unbekannte. Abteilfenster auf die Welt. Sitzen und wortlos schauen. Geschwindigkeit. Dann die Zeit der Autos. Sie reduzierten die Kurzreise wieder zur Fahrt, denn die Ferne gehörte noch lange der Eisenbahn. Es kamen die Stunden hinter den Kabinenfenstern der Flugzeuge, das Stehen an einer Reling. Die lieblosen Hallen der Flughäfen, die Busbahnhöfe der Länder, in denen der Bus das wichtigste Verkehrsmittel ist. Zuletzt lernte ich die unbefestigten Straßen der einfachen Länder und die endlosen Fernstraßen kennen,

 

die ganze Kontinente durchziehen und erst vor einem Meer halt machen. Immer länger wurden die Strecken, die ich auf den Straßen zurücklegte, bis sie zuletzt in einem Jahr länger wurden, als der Äquator. Und heute gilt meine Liebe den unscheinbaren Landstraßen, die sich von keiner kleinen Bezirkslandstraße unterscheiden lassen und doch viele Tausend Kilometer durch die Länder führen. In Europa sind es die alten Europastraßen, die man vor der Erfindung der Autobahnen anlegte. Oft sind sie sehr alt. Zwischen großen Zentren sind sie manchmal mehrspurig ausgebaut, man hat sie für die aktuellen Bedürfnisse benützt. Doch jenseits der Zentren sinken sie wieder in die Bedeutungslosigkeit einer Landstraße ab, eng, holprig, unbeleuchtet. Die Vielen benützen sie nicht mehr. Und nur der weit Reisende erkennt ihre Choreographie. Sie sind zu alt, um die Ortschaften zu umgehen, sie sind noch nicht in die Hügelhaufen begradigt. Sie folgen noch dem Lauf eines Gewässsers und laufen dafür oft an den neuen Zentren vorbei, wie alte Leute am Supermarkt.

Das Reisen auf solchen Straßen ist nicht geprägt von der Aktualität einer Epoche. Man reist eher durchs Land, als durch seine Kultur. Sie vermitteln Zeit und Geschichten, die man auf den Autobahnen, in den Flugzeugen und Schnellzügen nicht mehr vernimmt. Sie sind

 

gut für die stille Weite, aber nicht für die hastigen Kilometer. Für Fernreisen benützt sie heute keiner mehr, und doch sind sie vielleicht die aufrichtigsten Reisestraßen.

Das Reisen ist eine Bewegung der Sehnsucht und was dem Reisenden immer begleitet und ihm zuletzt bleibt ist die Melancholie. Erinnerung, Orte und verwehte Zeit, die der Reisende ständigt herstellt und die in seinem Kopf und Leib ein vages Muster knüpfen, holen ihn, der die Welt durcheilt, zuletzt gerade aus ihr heraus. Wer einmal begonnen hat zu reisen, der reist, hungrig an der Welt, immer weiter, selbst wenn ihm nur der einsame Spaziergang in seinem Stadtviertel vergönnt ist, oder die tägliche Fahrt zur Arbeit, die für ihn jedoch zu einer eingeschränkten Reise wird. Allen Reisenden, die auf solche Weise reisen und nicht, weil sie sich durch die Reise vor anderen wichtig machen wollen, steht eine Melancholie in den Augen, an denen man sie erkennt. Diese leichte Traurigkeit hat sie wahrscheinlich auf ihre Reisen geschickt, oder sie wenigstens ihre frühen Fahrten als Reisen erkennen lassen.

Unter dem Reisenden dreht sich die Welt, auf der er nicht mehr verwurzelt ist. Die Fortbewegung, die Geschwindigkeit sind seine Aufgabe. Diese Aufgabe trennt ihn von den Orten, an denen er erscheint und macht ihn den

 

 

Bleibenden fremd. Der Reisende beantwortet den Blick in den Raum zwischen den Sternen nicht mit demütiger Religiosität, sondern mit einem Schauer vor dem Boden, auf dem er steht. Sein Streben gilt der durcheilten Leere, nicht dem fruchtbaren Sein, das sich in Tod, Zeugung und Geburt ewig zu wiederholen versucht. An der Ewigkeit interessieren ihn nur die Zeiträume, in denen etwa Planeten den Weltraum durchmessen. Er mißt die Welt nicht innerhalb seiner Generation, sondern angesichts von erstandenen und versunkenen Ideen und Kulturen. So bleibt er selbst der Generation, den Ideen und der Kultur, die ihn hervorgebracht haben ein Fremder, oder wenigstens ein Zweifelnder. Zuletzt hat er kein Heim und Zuhaus. Er kennt nur Stützpunkte, zu denen er einige Jahre lang zurückkehren wird von seinen Reisen. Doch er wird sie immer wieder wechseln, wenn es ihm die Umstände auftragen. Wenn er zu alt wird zum Reisen, wird er in seiner näheren Umgebung umherschweifen, ziellos, nur damit er unterwegs ist. Er wird sich nicht an Kegelabenden beteiligen oder an den lauten Kartenspielturnieren der fröhlichen Runden. Sein Leben wird im Gegenteil immer stiller werden. Denn sein Lärm wird vorbei sein: das metallene Schlagen der Züge, das Rollen der Reifen, das Zischen des Fahrtwinds.

< Entwurf zu einem Essay: `Das Reisen'. Etwa 1990 >

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Die Harmlosigkeit

 

 

 

 

 

 

Eine der überraschendsten Eigenschaften ist die völlige Harmlosigkeit der Menschen. Als sei kein Schreien in ihnen, kein riesiges Schweigen, das sie umgibt, keine Fragwürdigkeit in ihrem Sein. Sie scheinen in aller Ernsthaftigkeit dem Tagesgeschehen zu folgen, als

 

gäbe es keine Verwirrung der Wirklichkeiten in ihnen, als lebten sie ohne Ahnungen, ohne die zarten Mitteilungen einer Fremdartigkeit, als seien sie fraglos im Besitz ihres Lebens, ihrer Situationen, ihres Daseins. Ihre Sprache ist dementsprechend klar und fest.

 

Ihr Denken wägt Tatsachen ab. Ihre Augen suchen keinen Kontakt. Sie sind bloß Sehorgane. In der dunkelsten, sternüberzogenen Nacht können sie neben einem gehen wie durch eine Fußgängerzone. Die Prankenhiebe eines Windes übersehen sie. Über den

 

Unterschied zwischen Draußen und Drinnen setzen sie sich mühelos hinweg. Über die Liebe sprechen sie wie über Warenpreise.

 < An dieser Stelle abgebrochen. `Spiele´. >

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 Von der Schwierigkeit, bezaubert zu sein

Wenn es eine Behutsamkeit gibt, die ich liebe, so ist es die Sprachlosigkeit der Dinge. Ihr Schweigen, das den eigenen Blick auf sie weit macht, klar und ruhig, das ein Interesse ermöglicht ohne den Zwang, sich in eine Beziehung zu ihnen zu setzen und diese Beziehung gleich aussprechen zu müssen. In der lauten Umgebung der Sprechenden werde ich mehr und mehr zu der Überzeugung gedrängt, daß nur zauberhaft sein kann, was sprachlos ist. Denn der Zauber der Welt entspringt der Behutsamkeit. Dem Dasein ohne Durchdringung, ohne Konfrontation. Nun leide ich in diesen Zeiten der allgemeinen Unzufriedenheit und Hysterie schon seit längerem an einem Mangel an Umgang mit Menschen, die mit einer behutsamen Freundlichkeit auf die Welt schauen würden, und es scheint mir selbst nur eine eigene Überreaktion auf die schlechte Laune der Leute und ihr permantentes Schimpfen zu sein, das mich die Sprachlosigkeit in einem so hohem Maße favorisieren läßt , wie es ihr eigentlich gar nicht zusteht. Denn eine völlig sprachlose Welt ist auf lange Sicht nur still, einsam und gemütsbelastend. Es fehlt ihr an Mitteilung, und damit meine ich nicht die belanglosen Episoden eines durchschnittlichen Alltags in einer der sieben führenden Industrienationen, die hinlänglich so erzählt werden. Eine Mitteilung ist behutsamer, freundlicher. Ihr ging eine Faszination voraus, eine Annahme von Welt, ein Erstaunen oder eine Rührung. An manchen Tagen, wenn ich die mir lieben Menschen nicht gesehen habe und meine Zeit alleine oder auf der Arbeit

 

zugebracht habe, fällt es mir oft selbst nicht leicht, der Welt freundlich zu begegnen. Manchmal hilft mir eine zufällige Beobachtung, ein besonderes Licht auf den Hausfassaden, ein unvermittelt hübscher Ton im Geräuschbrei, eine plötzliche Erinnerung, um mich aus der Tagessuppe aufhorchen zu lassen. Hatte ich dieses Glück jedoch nicht, so muß ich selbst tätig werden. Ich räume etwas in der Wohnung, das vertreibt das Gefühl, noch so vieles erledigen zu müssen. Dann kann ich mich an eine der Beschäftigungen machen, die aus dem Alltag ein schönes Dasein machen. Ich setze mich an einen ruhigen Ort, atme, rauche. Ich bereite mir eine Mahlzeit, esse langsam. Ich sage einige Worte in die Stille, Worte, die ich liebe. Ich schreibe, ziellos, ohne Hintergedanken, den Zeilen hinterher, die ich mit den unendlich schönen, rätselhaften kleinen Zeichen fülle, die Worte tragen, Sprache, die nicht mit Sprache beantwortet wird sondern mit einer Weite in meinem Bewußtsein, das mir erzählt, dass es einen Horizont gibt, einen Himmel, Wind und Wolken, dass die Zeit noch größer und leichter ist als aller Raum, als alles Licht. Mir erzählt, dass ich noch da bin, trotz alledem, was da täglich nach mir schlägt, was mich in den Nächten ins Schwarz ziehen will noch da bin, lächeln kann, singen, einen netten Gedanken denken. Es läßt sich nicht genau beschreiben was da geschieht, es ist nichts mysteriöses, es ist klein, leicht, unerheblich, es kichert in sich hinein und hat keinen Bestand gegen die Gemeinheiten der Welt, doch es rettet mein Herz. Und nur es.

Nun ist es schwer gegen die

 

laute Welt zu halten und gegen Menschen, die eine Bedeutung, eine Wahrheit und seriöse Erkenntnisse suchen. Noch schwerer gegen alltagsgeplagte Menschen der Neunziger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts. Ihre Nervosität und ihre Arroganz gegenüber solchen Kleinigkeiten kann mir eine Situation schnell versauen und dann muß ich fort. Auf die Straße, ins Café‚ oder an meinen Computer. An einen Ort wo es möglich ist, bezaubert zu sein, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen.

Eine leichte Traurigkeit schwebt dann in diesem leichten Gefühl des Tanzes mit der Welt, daß es ein Tanz alleine bleibt. Denn nichts ist zeitloser, geschwinder und heller als leichte Worte zwischen Menschen, die ruhige, gemeinsame Freude am Dasein und seiner Rätselhaftigkeit. Doch auch nichts ist seltener. Wenn es mir geschieht, daß ich mit einer meiner Herzblumen eine solche Begegnung erlebe, bin ich bereits schnell an der Klippe zur Liebeserklärung. So groß ist die Überraschung, es doch einmal zu erleben. Ich zwinge mich dann zur Ruhe. Denn ich weiß, daß die anderen die Welt anders erleben. Für sie ist es vielleicht nur ein lustiger Nachmittag, den sie mit mir erlebt haben und es fällt ihnen weiter nichts auf. Also vermeide ich vorschnelle Worte, die ihnen sagen würden, wie glücklich sie mich machen. Wie schön sie sind. Wie wundervoll ihre Worte, ihr Lachen, ihre Blicke, eine geschwinde Bewegung, eine Haltung des Kopfes. Man wird so schnell als Verrückter angesehen, oder schlimmer noch als Bedrohung. Ja werd ich denn das bedrohen, was ich liebe ? Da halt ich lieber meinen Mund und

 

genieße es still, ihr Zuschauer sein zu dürfen, der ein Stück weit mit ihnen geht.

Vor einigen Monaten geriet ich nahe an einen Traum. In die plötzliche Möglichkeit einer Liebe aus einer Verliebtheit, die aufgrund meiner Sehnsucht große Bedeutung erlangt hatte. Eine Bedeutung, die mich in einen wochenlangen Taumel und schließlich an den Rand eines Abgrunds trieb. An den Rand der furchtbaren Gewöhnlichkeiten dieses öden, abgestandenen, genervten Lebens, das es so schwer macht, bezaubert zu sein. Ich war nahe der Entscheidung, jetzt keine Enttäuschung meiner stillen Hoffnungen mehr hinzunehmen. Allzu schön war die Vorstellung, dieser lauten Welt mit einem Menschen ein Schnippchen auf immer schlagen zu können. Meine Vorsicht ließ mich zum Glück nicht ganz im Stich und so wartete ich bang, meine Erwartungen belächelnd, was die Welt mir bringen würde. Ich lernte die Enttäuschung überleben, bevor sie wirklich Enttäuschung wurde. Man wartet still, und die Zeit schafft so vieles fort, indem sie es langsam zerstört. Wie mein Zutrauen, meine zarten Empfindungen, meine behutsame Liebe in der bangen Zeit des Wartens zerstört wurden, um mich zu retten.

Heute bin ich wieder wirklich allein in meiner Bezauberung durch die Welt. Ich lächle, denn es ist der Zustand, den ich kenne, mit dem zu leben ich ja gelernt habe. Ein schwieriger Zustand und doch ist es meiner, und ich darf vielleicht nicht so vermessen sein, mir einen anderen zu erhoffen, den ich vielleicht nicht ertrüge.

 

 

 

 

 

 

 

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Im leeren Haus

 

 

 

 

 

 

Wir kennen das Gefühl von der Stille nach lauten Festen. Es ist die Verlassenheit, wenn die Musik vorbei ist. Hinter dem Gebell der Menschengruppe, die schwatzend vorüberläuft, zieht es ein. Das leere Haus, das verlassene Zimmer. Die schweigenden Wände. Der gerade verstummte Lärm hat uns keine Antwort hinterlassen. Außer vielleicht einer, die wir schon kannten, daß der Mensch ein Hordentier ist. Es fällt ihm wenig ein, wenn sein Lärm, den er mit seiner Sprache macht, verklungen ist, dieser Lärm um nichts.

 

Auf einem solchen lärmenden Fest wurde die letzte öffentliche Ausgabe des Weltspielspiegels verteilt. Auch danach war Schweigen.

Da das Schweigen sich aber auch so einstellt, ( ein Narr ist man auch ohne sie ), hat der Herausgeber des Weltspielspiegels ein neues Konzept dieses Spielzeugs entworfen. Es soll nun zum Vereinsblatt des Clubs werden, dessen einziges Mitlied er ist.

 

 

Mit Sorge wird in der Redaktion festgestellt, daß die Unart der Menschen der westlichen Gesellschaft im ausgehenden 20.Jahrhundert, einander nicht mehr zuzuhören, sondern ungeduldig abzuwarten, bis der andere mit seinem Sprachgeräusch aufgehört hat, um schnell selbst eines zu machen, in beängstigendem Maße zunimmt. Für den Weltspielspiegel soll das in Zukunft heißen: wenn selbst auf solche Artikel wie `Ach Herz'      ( Weltspielspiegel Nr.2) keinerlei Reaktion kommt, dann braucht ein Weltspielspiegel keine Leser mehr, sondern genügt sich selbst.

 

So kann denn der Weltspielspiegel getrost zum Krieg am persischen Golf schweigen, ebenso zur Einverleibung der fünf neuen Bundesländer, und sich um die Themen kümmern, die nach der Meinung der Redaktion ein Leben auf diesem Planeten noch interessant machen könnten. Möglicherweise wird schon das hier vorliegende Heft Nr. 4 einige dieser Themen aufzeigen. Wir wünschen es der Redaktion, denn sonst könnte sie gleich ihren Bankrott erklären.

Zitat Ende aus: Der Weltspielspiegel. Heft 4. I.Quartal 1991

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Das Lauschen

 

 

 

 

 

 

Was in der Welt des Lichts die absolute Dunkelheit ist, ist in der Welt der Geräusche die absolute Geräuschlosigkeit. Wir begegnen ihr selten, seltener als der absoluten Dunkelheit, denn ein Raum ist leichter vom Licht, als von den Geräuschen abzuschirmen.

Im Freien wird die absolute Dunkelheit, die es dort nur nachts unter einer geschlossenen Wolkendecke gibt, zur absoluten Finsternis, die Geräuschlosigkeit zur großen Stille. Daß wir diesen beiden Phänomenen kaum mehr begegnen erklärt sich aus unserem Leben in dichtbesiedelten Räumen, wo Streulicht und Streugeräusch permanent den Äther füllen.

In der absoluten Dunkelheit eines gegen das Licht abgeschirmten Raumes starren wir in der Dunkelheit in die Nähe. Im Freien dagegen, starren wir in der Finsternis ins Weite. Denn wie wir die Begrenztheit eines Raumes fühlen, so ahnen wir die Weite zwischen den Horizonten.

Ebenso verhält sich unser Gehörsinn: im schalltoten Kunstraum horchen wir in die Nähe. Wir hören unser Blut in

den Ohren sausen. Die Geräuschlosigkeit ist dumpf und dicht an unserem Ohr, als habe 

 

jemand die Geräusche kurz vor unserem Ohr abgefangen. Der Gehörsinn eines Menschen in der Geräuschlosigkeit ist völlig in sich gefangen. Das ist nicht so in der großen Stille. Die große Stille, die zwischen den Horizonten zu liegen scheint oder die, wenn wir sie nachts unter freiem Himmel vernehmen, sogar wie direkt aus dem All zu einem Lauschenden dringt, ist eine Mitteilung von fern an den Gehörsinn. Der Mensch wird vom Horchenden zum

Lauschenden. Die Weite erst, aus der die Stille zu kommen scheint, hat aus dem Hören und Hinhören, dem Horchen, ein Lauschen gemacht.

 

Wir kennen den Unterschied, wenn wir in einem stillen Zimmer eines Landhauses das Fenster öffnen. Nach wie vor ist es still. Doch ist die Stille bei geöffnetem Fenster eine andere. Sie ist von fern. Sie trägt leiseste Geräusche

daher, deren wir uns nicht einmal bewußt sind, so leis sind sie. Doch wir ahnen doch die Weite dieser Stille. Nun könnte der weltinteressierte Leser denken, es gehe uns hier um die Neugier an der Welt, die uns von Hörenden zu Hinhörenden macht. Doch es geht 

 

 

 uns mehr um die Feinmechanik des Vorgangs zwischen Hören und Lauschen. 

Wir stellen nämlich fest, daß es dem Menschen möglich ist, in 

einer Weite, die er in feinen, von fern  herantreibenden Geräuschen vernimmt, nicht lediglich auf seine Neugierde an den Verursachern dieser Geräusche zu reagieren, sondern solch gegenständliches Auffassen seiner Umwelt den Tieren zu überlassen und sich ganz auf den Genuß des feinen Bewußtseins von Weite zu konzentrieren. Doch was ist die Wahrnehmung von Weite, wenn man ihr die Bausteinchen nimmt, die sie uns wieder begreifbar machen ?Da sitzt also so ein Mensch, und es ist ihm weit ums Herz. Wir sagen es bereits: ums Herz, denn die  Wahrnehmung von Weite, das Lauschen, ist kein Vorgang den wir so ohne weiteres verstehen und erklären können. Die Ahnung von Weite, von Raum, ist dabei eher die Wahrnehmung einer Dimension, nicht eines ausmeßbaren Koordinatensystems. Erahnt wird der Raum, nicht ein System, das ihn vorstellbar macht. 

Es ist schlichtweg unmöglich, den Raum oder nur die Vorstellung von

 

 Raum zu beschreiben, wenn wir nicht zu gegenständlichen Modellen greifen sollen. Es bleibt uns also nur festzustellen, daß sich der Vorgang der reinen Wahrnehmung von Weite nicht in unserem gegenständlichen Bewußtsein abzuspielen scheint, sondern eher in einem Vorbewußtsein, einem Ort der Ahnungen ohne Begriffe für Gegenständliches. Dieses Vorbewußtsein teilt sich uns verstärkt mit, wenn wir die Weite erahnen ohne zu fragen, was sich denn, und wo, in ihr alles bewegt. Wir gebrauchen unser Vorbewußtsein, wenn wir in die Weite lauschen ohne zu fragen. Wir mögen es genießen oder es mag uns in der Abwesenheit von beruhigenden Begriffen und Erklärungen erschrecken, es ist in jedem Falle sehr menschlich, wenn wir Weite ahnen. Unsere Sehnsucht, die hinter die Horizonte greift, kommt zu einem Gutteil von dieser Ahnung des Weiten und nicht nur von unserem Wunsch, es möge anderswo besser sein, als wo wir sind. So wäre diese Sehnsucht auch eine Folge unseres Vorbewußtseins und nicht nur eine Antwort auf unsere Gier nach mehr ( Gegenständlichem ).

 

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Luftwaffe holt Marlene heim nach Berlin

( Schlagzeile eines Boulevardblattes ) Dieser unverschämte Satz ist ein

 

reines Kunstwerk. ( Gemeint ist die in den ersten Maitagen des Jahres 1992 in Paris verstorbene

 

Marlene Dietrich ). Kurz und von geradezu genialem Gespür für die Wahrheitsbewältigung der

 

Deutschen.

Kein weiterer Kommentar.

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WORTLOSE NACHMITTAGE

 

 

 

 

 

 

Before I sink into the big sleep

I want to hear the scream

of the butterfly

( Jim Morrison )

Oben ein lippenloser Himmel. Weit. Blick durchs Fenster, in die leere Wohnung zurückgekehrt. Stille Wohnung, geknebelte Geräusche von der Straße und: Wind. Wortloser Wind. Wenn Müdigkeit den eigenen inneren Monolog zudem noch zurückhält, bleibt der Nachmittag ohne Sprache. Ohne Worte, die sich an die Gegenstände heften könnten.

Der Tisch. Schweigender Vierbeiner, bewegungslos. Nicht mehr mein Tisch oder ihr Tisch. Ein Tisch. Tisch. Oder nicht einmal das. Nur das Möbelstück,

 

die Form, das Holz. Der Blick stößt an ihn ohne ein Wort und der Tisch steht fremd und schweigend. Der Blick hebt sich. Wände, Räume, Böden. Decke oben, bewegungslos. Nur Blick sein, wortlos, ohne Gedanken. Aus der Wohnung werden stumme, fremde Räume. Hätte ich sie niemals betreten, sie wären doch dort.

Wortloses Bewegen. Blicken. Der Blick ohne Gedanken wird tief. Düster. Lauernd. Ungegrüßt springt er die Dinge an. Die ihn nicht brauchen. Nicht den, dessen Blick es ist. Verlaß die Wohnung noch einmal für kurze Zeit und kehre nach wenigen Minuten zurück und sieh dir dann das Schweigen dieser Gegenstände an. Dann ahnst du es. Spürst den wortlosen Nachmittag, den weiten, lippenlosen Himmel, in dem die große Zeit steht, von der du

 

sonst nichts weißt.

So wird es Abend. Die Sonne geht über den Himmel hin. Wenn es das Wetter will, hocken Wolkenriesen in der Weite, deren Ort du nicht bestimmen kannst. Greifen unfaßbar viele Kilometer über einen Horizont, den du nicht siehst. Bewegen sich vorbei, ob du es nun wahrnimmst oder nicht. Dein Blick vermag nicht, sie zu halten. Wende dich ab, geh umher, leg dich schlafen. Es ist bedeutungslos. Sie ziehen weiter. Das Licht. Das Licht ist ein Stoff, der über den Dächern ist und in den Fassaden spielt.

Die Fensteraugen blicken groß hinein und glitzernd schlucken sies. Das Licht berührt dich lautlos. Und nicht nur deine Augen. Deine rastlose Bewegung webt Schatten durch das Licht, die mit dir

 

verschwinden. Es greift hinüber zu den Antennen auf den Dächern, die darin tanzen. Vögel rudern ihre geschwinden Schläge hinein: es flirrt, es streicht, es duckt sich unter die Wolken.

Zahnlos das Dächermeer im Wind. Zwischen Schornsteinen das klirrende Hinauf der Kirchtürme, an denen bricht das Licht entzwei. Und schreit.

Wortlos blickst du in die Panik der Birkenblätter im Sturm und hast die Sprache verloren. Die Regenperlen auf den Fensterscheiben singen dir ein kaltklares Lied. Nun suchst du den wamen Schlaf, den letzten Freund am Nachmittag. Hast es gesagt und hast dabei geschwiegen. Und in den dunklen Schlaf schlägt dich zuletzt ein leichtes Herz.

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MATINEE

 

 

 

 

 

 

An der Kreuzung Dieffenbachstraße-Graefestraße in Berlin Kreuzberg gibt es einen Getränkegroßhandel. Getränke, das weiß ein jeder der schon einmal den Kasten Mineralwasser geschleppt hat, sind schwer. Nun muß ja so ein Getränkegroßhandel beliefert werden und da sich derjenige an unserer Kreuzung aufgrund seiner niedrigen Preise in der Bevölkerung einer gewissen Beliebtheit erfreut, muß er besonders oft beliefert werden.

Hinzu kommt, daß es sich bei der Gegend um einen Stadtteil handelt, in dem die Arbeitslosigkeit bei etwa 30 % oder mehr angekommen ist. Da spielt das Getränk eine ganz besondere Rolle im sozialen Allerlei.

Also fährt am Vormittag so mancher Großlaster mit seinem dem Gewicht seiner Ware angepaßten Fahrer vor, der an dieser engen Kreuzung der denkbar ungünstigste Verkehrsteilnehmer ist, zumal sich dort zwei schmale, verkehrsberuhigte Straßen treffen. Seine enorme Länge und Breite verleihen einem solchen Gefährt eine beinah unaussprechliche Unbeweglichkeit. Da knickt das Führerhaus vor seinem Sattelschlepper seitlich fast weg und die bis in Kopfhöhe aufragenden Jumbotjetreifen des Schleppers werden schräg übers Pflaster geschoben, wenn es um die Kurve geht. Irgendwann steht der Koloß dann vor dem Getränkehandel und blockiert gut und gerne sieben der senkrecht zur Straße in

 

 

Parkhäfen geparkten Privatgefährte. Aufgrund seiner Breite kann allenfalls ein Kleinwagen mit angelegten Rückspiegeln noch an ihm vorbei. Eine Taxe schafft es schon nicht mehr.

Nun haben wir zum Vormittag das Fenster geöffnet und lauschen staunend dem Geschrei von dort unten, einer `Konversation´ von homo sapiens vehiviculi taxi mit einem der Zulieferer. Wer den Berliner Droschkenfahrer kennt, kann sich vorstellen, wie diese Konversation in etwa verläuft. Nun sind die Fahrer der Zulieferlastwagen auch nicht gerade aus dem Tanzkurs gekommen. Da kräuselt sich das Haar über der Tätowierung auf einem baumstammdicken Bizeps, der mühelos das 50 Liter Alu-Bierfäßchen stemmt. Dabei hat der Bierkutscher selbstverständlich auch noch genügend Atem, seinem Gesprächspartner, dem Droschkenfahrer ( mit Kunden im Wagen, da kennen die keinen Spaß ! ) gemäß der Art wie dieser sein Anliegen eben vorgetragen hat, zu antworten. Das beindruckt dann sogar die Gruppe fröhlicher, heimatloser Trinker, die, ganz praktisch denkend, über den ganzen lieben langen Tag direkt vor dem Getränkemarkt residieren, mit Hund, Pulle, Drehtabak und Plastiktüte. Wie eine Gruppe Pfadfinderbuben auf ihrem ersten Camp, so niedlich erscheinen die einem angesichts der rein fachlichen Diskussion der beiden Berufsfahrer.

Doch das Stück hat seinen

 

 

Höhepunkt noch lange nicht erreicht: Ein zweiter Lastwagen, mit alkoholfreien Erfrischungsgetränken und damit in der Rangordnung natürlich sogar noch unter der Droschke, ( darunter rangieren nur noch die braunen Federal Express Lieferwagen, das Postauto und das gemeine Normalvolk ), nähert sich dem Getränkemarkt und kommt hinter der blockierten Taxe zum Stehen. Sein Fahrer hat bereits begonnen, die Plane aufzuwickeln, als der Droschkenfahrer, krebsrot und kurz vor einem Amoklauf, erkannt hat, daß der Fahrer des Bierlasters nach dem Entladen der Fässer nun noch eine Halle voll Europaletten mit Bierdosen abzuladen gedenkt. Fluchend hat er sein Vehikel bestiegen, um rückwärts aus der blockierten Straße in eine Seitenstraße zu entweichen. Und rückwärts steht nun der Erfrischungsgetränkelaster. Ein neues Duett erfüllt nun lautstark die Straßenzüge, zwei schmetternde Barritone, einer davon bereits heißer, da er ja schon länger auf der Bühne steht.

Nachdem sich nun noch einige Fahrzeuge der untersten Kategorie ( PKWs in privater Nutzung, unvorstellbar, daß die Polizei so etwas nicht verbietet !) aus verschiedenen Richtungen der Szenerie genähert haben und, kunstvoll ineinander verzahnt, völlig bewegungsunfähig geworden sind, ist das Maß voll !!! ( die impertinenten Blicke der Muttis auf ihren Fahrrädern mit Einkaufskorb, die jetzt absteigen

 

 

müssen, interessieren niemanden, überhaupt niemanden ). Motoren heulen auf. Reifen quietschen. Das finale furioso mit den Hupen setzt ein. Unsere Katze kommt zu mir ins Zimmer und blickt mich sorgenvoll an. Gottseidank ist auch eine Polizeistreife in den Fuhrpark eingekeilt und so kommt es nicht zum Handgemenge.

Dieses kleine Schauspiel ist ein täglich in Variationen aufgeführtes Programm. Allerdings gibt es nur eine Matinee. Besonders lustig wird es an Tagen, an denen die jungen Türkenmädels mitspielen, die an dieser Kreuzung Schülerlotsen sind: da kann ein zwölfjähriges Ärmchen mit einer Spielzeugkelle mal eben einen 40-Tonner aus dem Umland zur Verzweiflung bringen. Ein seltener Anblick: ein ratloses Gesicht hinter der Frontscheibe des Führerhauses, hinter der auch das Kennzeichen: `Hans-Peter´ steht. Hans-Peter fürchtet keine Einbahnstraße und keine zugeparkte Einfahrt. Er fährt mit seinem Sattelschlepper in engen Wohnstraßen furchtlos 90 km/h. Doch angesichts der tükischen Schülerlotsin versagt seine ganze Erfahrung.

Nach einer halben Stunde ist alles vorbei, und fast schon langweilig erfüllt die normale, ruhig brausende Vormittagsstille die Straße. Ich gebe der Katze ihr Futter und schalte den Computer aus. Morgen habe ich noch einen freien Tag. Dann also wieder zur Matinee !

 

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SEEBEBEN

 

 

 

 

 

 

Die tektonischen Gegebenheiten unseres Planeten erzeugen von Zeit zu Zeit auch ein Beben des Meeresbodens, hunderte, vielleicht tausende von Metern unter der Oberfläche, ein sogenanntes Seebeben. Ein solches Beben erzeugt Wellen an der Oberfläche, die sich mit großer Geschwindigkeit fortsetzen, meist sind sie noch gar nicht so hoch, einem größeren Schiff können sie in vielen Fällen nichts Ernstzunehmendes anhaben, die Wellen gehen unter ihm durch. Ihre Gefählichkeit besteht nicht unbedingt in ihrer Höhe, sondern in der in ihre Gestalt umgewandelten ungeheuren Gewalt, kinetische Energie, die in eine unvorstellbar große Menge eines schweren, aber verformbaren Stoffs übergegangen ist: in Wasser. Treffen diese von einem Seebeben erzeugten Gewaltpackungen jedoch auf einen Strand, so ändern sie ihr Erscheinungsbild auf dramatische Weise.

Der von unten ansteigende Meeresboden zwängt ihre Energiemenge zusammen und drückt die Wassermassen nach oben, wohin sie sich aber wegen der Schwerkraft der Erde, die sie zurückhält, nicht beliebig ausdehnen können. Dann gibt es nur noch eine Möglichkeit für das Wasser, die in ihm enthaltenen Gewalten

 

zusammenzuhalten und weiterzutransportieren: die Geschwindigkeit nach vorne.

Jeder kennt den Vorgang in seiner Miniaturausgabe. Schaut man in eine Brandung an einem Strand, der einen ansteigenden Grund hat, hat man den Eindruck, daß die Wellen sich erst im letzten Moment noch aufbäumen, bevor sie sich auf dem Sand brechen. Und ebendieses Aufbäumen von Wellen an einem Strand ist jetzt in Papua Neuguinea geschehen, doch nicht in seiner Miniaturausgabe. Die Wellen, von einem Seebeben erzeugt, sollen zehn Meter hoch gewesen sein, die Höhe eines viergeschossigen Hauses.

Beim Frühstück erreicht einen die Nachricht. Als sie das erste Mal in den Nachrichten auftaucht, ist alles bereits zwei Tage her, es war ja auch keine deutsche Straßenbrücke über eine ICE Trasse dabei, man versteht das. Es wurde geschätzt, daß vielleicht 1000 Menschen ihr Leben verloren hätten. Jetzt, etwa eine knappe Woche nach der Katastrophe, hat man bereits 1000 Tote geborgen und weitere 5000 Menschen werden vermißt, elf Dörfer haben die Flutwellen weggerissen, haben Halbinseln völlig überspült und alles, was sich auf deren Boden befand

 

fortgerissen, wieder hinaus ins Meer.

Wir kennen solche Dörfer. Die Holzhütten, der Sand, auf dem sie stehen. Kleine Fischerboote, die auf den Strand gezogen werden, wenn die Fischer zurückkommen. Ihre Netze zum Trocknen auf in den Sand gesteckte Stäbe gehängt. Aus geflochtenen Körben wird der Fang aus den Booten gehievt. Bereits am Strand die ersten Käufer. Fische werden ausgenommen, unwillkommener Fang weggeworfen. Die Möwen kümmern sich darum. Die Körbe werden schließlich fortgebracht, Kinder hüpfen lachend um die Fischer herum, es ist ein Ereignis.

Hinter dem Dorf arbeiten sie in den Maisfeldern, in den Obstplantagen. Angepflockte Ziegen, Hunde, Hühner. Ein zerbeulter Lieferwagen bringt Getränke, die wie wertvolle Metallbarren in den wenigen, funktionierenden Kühltruhen gehortet werden. Man ist stolz, dem Reisenden eine eiskalte Cokedose anbieten zu können. Denn die meisten Hütten haben keinen Strom und kein Wasser. Die Familien sind groß und haben wenig Platz. Die Kinder rennen den ganzen Tag draußen herum, auch die ganz kleinen, sobald sie sich eben auf den Beinen halten können.

 

Die Abende sind von einem zauberhaften Licht und die Nächte von einer atemberaubenden Dunkelheit, wegen der wenigen elektrischen Lichter. Einzelne Feuer schicken einen rötlichen Schein in die Nacht hinaus. Früh wird es still. Lange vor Mitternacht schläft bereits das ganze Dorf. Nur der Wind und die Brandung und der Mond.

Und in so einer Nacht kamen die Wellen über Papua Neuguineas Strände, überraschten die Bewohner im Schlaf, fegten ganze Familien und deren jahrhundertealte Familiengeschichte weg, Langsam verbreitet sich die Nachricht an den Frühstückstischen. Man ist fertig mit dem Frühstück und muß zur Arbeit. Unter den Kollegen fällt vielleicht die kurze Bemerkung, man sieht sich kurz in die Augen und ist entsetzt und machtlos. Man setzt sich wieder und arbeitet weiter. Und so laufen die Flutwellen erst hier, viele Tage später und Tausende von Kilometern entfernt, schließlich aus, nachdem ihre ungeheure Gewalt noch den einen oder anderen von uns leicht angestoßen hat. Und an einigen Stränden Papua Neuguineas ist nur der Wind und die Brandung und in den Nächten der Mond geblieben.

 

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BAHNHOF HERMANNSTRASSE

 

 

 

 

 

 

Der nahezu ordinäre Umstand, daß ich mein Geld verdienen muß, weil wohl alle in Frage kommenden Mäzene wieder auf Mallorca in der Sonne sitzen und mich so niemals finden werden, gepaart mit der grotesken und jedem normalen Menschen unvorstellbaren Lebenssituation, daß ich einen Arbeitsvertrag unterschrieben habe, der mich an die Interessen der Deutschen Lufthansa AG, Köln, bindet, führt ab und zu zu der Notwendigkeit, daß ich morgens fröhlich meinen Frühstückstisch verlasse um hinaus zum Berliner Flughafen Schönefeld zu fahren. Dort befindet sich in einem phantasielosen Kontainerbau ein klitzekleines Büro, in dem ich dann zu den normalen Bürozeiten alleine sitze, so es disponierenden, klugen Köpfen in meiner lieben Firma recht ist.

Es sind die normalen Bürozeiten, die mir vorgeben, die kleine Reise dorthinaus ( der Flughafen Schönefeld ist von der Berliner City weiter entfernt als z.B. der John F. Kennedy Airport von Manhattan ! ) nicht im Auto anzutreten, wie die anderen lieben Mitbewohner meines Teils der Erdkugel, sondern mit den öffentlichen Verkehrsmitteln. Denen gelingt es, meine Anreise in etwa einer dreiviertel Stunde durchzuführen, was die Planungsstabmitglieder in den Straßenbauämten der Stadt im Grunde sofort in den Verzweiflungsselbtmord treiben müßte, denn mit dem Wagen wäre ich von ca. einer bis gut und gerne zwei ( ! ) Stunden ( es ist durch mahnendes Beispiel bewiesen ) dorthin unterwegs.

Ich verlasse also den Frühstückstisch, stakse die glockenturmhohen Treppen unseres fünften Stocks zum Straßenniveau hinunter und zwänge mich nicht hinter das Lenkrad meines geplagten Kleinwagens, sondern schlendere leichten Schritts an ihm vorbei        ( ich kann richtig sehen, wie er sich freut, heute einen freien Tag beschert zu bekommen ) und suche den UBahnhof Schönleinstraße am Kottbusser Damm auf. Hermannplatz,

 

Boddinstraße, Leinestraße. Und dann ist es so weit: der U- und SBahnhof Hermannstraße ist erreicht.

Nun steht so eine Stadt ja voller zweckmäßiger Bauten, die teilweise so schön sind, daß man sie preisgekrönt hat oder daß sie unter Denkmalschutz stehen. Der Bahnhof Hermannplatz ist nicht einmal ein Bauwerk ! Er liegt quer unter der Straßenbrücke der Hermannstraße, und auch die ist nicht eben eine Schönheit. Die Busse schaukeln über sie weg und bringen Schwärme armer Lohnabhängiger aus den endlosen Häuserblocks Neuköllns, die von der Straße die Treppenabgänge zum Bahnhof hinab drängen. Von unten her quillt der Strom der mit der UBahn Angereisten herauf und die beiden Teilmengen der Umsteiger durchquetschen sich auf den SBahnsteigen. Die Züge in Richtung Westend und City schaufeln diese Bahnsteige nahezu leer. Nur ich und ein paar Vereinzelte wollen in Richtung Südost. Ich bin jedesmal pünktlich genug da, um noch die Abfahrt des Zuges nach Königs Wusterhausen und die des Zuges nach Bernau mitzuerleben, bevor mein Zug nach Berlin Schönefeld einfährt. Da ist noch Zeit für eine Zigarette und einige Blicke zu den sonnenbeschienenen Fassaden der alten Häuser, die entlang der Bahntrasse stehen und in den hellen Vormittagshimmel, durch den schräg die Frühmaschinen mit eingeschalteten Landeschweinwerfern nach Berlin Tempelhof einschweben.

Nein, eine Schönheit ist er nicht, dieser Bahnhof, und doch ist er einer meiner Lieblinge. Es gibt in Berlin einige seiner Art, das heißt, Bahnhöfe, die das UBahnnetz mit dem SBahnnetz verbinden. Doch wenige von ihnen liegen einfach unter eine Straßenbrücke gequetscht. Und die unbeschreiblich grauen und dabei natürlich ganz ihren Modezeitschriften folgend knalligbunt gekleideten Menschenmassen aus dem

 

großen, öden Neukölln ergeben eine Couleur, die vielleicht nirgendwo sonst auf diesem Planeten zu finden ist. Die dort jeden Morgen zur Schau gestellte Massendarbietung der Geschmacklosigkeit ist einfach nicht zu überbieten ! ( außer natürlich vielleicht am U- und SBahnhof Neukölln selbst ). Dort steh ich also und betrachte das Treiben, froh um die zehn Minuten, die ich zu früh hier bin für meinen Zug.

Der Bahnhof Hermannstraße ist ganz nebenbei auch ein Verschiebebahnhof der Deutschen Bahn AG ( hier in Berlin vormals DDR Reichsbahn, für alle nicht Ortskundigen ). Die alten Dieselloks der DDR Reichsbahn zerren lange Züge mit Abraum und Berliner Stadtmüll vorbei. Bei einigen von ihnen hat die Bahn ( 2000 ? ) das matte, angenehme Rostrot mit dem beinah perversen, knallenden Sterilrot der neuen Bahn AG übersprüht. Diese schweren, gemütlichen Kolosse der Reichsbahn sind dadurch zu großen, lächerlichen Disneyworld-Loks des neustrukturierten Zukunftsunternehmens Bahn ( hahaha ) geworden. Sie haben all ihren Charme dadurch verloren, der ja darin bestand, daß sie verschmierte, gußeisenschwere und lärmende Ungetüme aus den großen Industriegebieten am Ural waren, die anscheinend jede erdenkliche Art von Treibstoff mehr zu großen, schwarzen Rußwolken verballerten, als sie in kinetische Energie umzuwandeln. Die Arbeiter aus dem Stahlwerk haben aber jetzt bei einem Schnellimbiß angefangen und müssen dessen peinlich bunte Uniform und Papierhütchen tragen. Kleinere Verschubsloks stellen Züge zusammen. Da baumelt lässig der tätowierte, käsebleiche Unterarm eines Junglokführers aus dem geöffneten Schiebefenster und auf den Puffern des vordersten Güterwagens steht lässig der Kuppler mit seinem knallgelben Neunzigerjahreschutzhelm. Die Räder knallen über fingerdicke Spalte zwischen den Schieneneisen und quietschen

 

über viel zu enge Weichen aus der Vorkriegszeit. Das Problem mit den ICE Radreifen ist hier kontinenteweit entfernt. Hier kracht Metall auf Metall wie zur industriellen Revolution und das Wort Lärmdämmung wird hier zum Begriff , den nur naive Schwärmer im Munde führen. Ebensolche naive Schwärmer wie jene, die die DDR Loks knallrot haben ansprühen lassen. Kindische Narren, die noch eifrig an den Fortschritt glauben und noch immer nicht verstehen, wo sie hier eigentlich sind.

Ich schlage denen vor, einmal den Bahnhof Hermannstraße zu besuchen. Dort stehen noch einige eingemottete Vorkriegskesselwagen mit Speichenrädern in ihrer ganzen unscheinbaren Schönheit auf toten Gleisen herum. Aus einer Zeit, als es noch einfach darum ging, Menschen und Güter von einem Ort zum anderen zu bringen ( und nur dafür existiert auch der Bahnhof Hermannstraße ! ) und nicht um kundenorientierte Serviceprodukte, in einer Umgebung, die mehr mit dem kindischen Nacheifern von bemannten Raumstationen zu tun hat als mit Transport, Morgen und Menschen, die eben erst aufgestanden sind und einen langen Tag vor sich haben. Der Bahnhof Hermannstraße hat mit solcherlei gesalbten, weltfernen Glücksvorstellungen von einer sauberen, konfliktfreien Welt gottseidank nichts am Hut, und gerade das macht ihn mir so lieb. Er ist einfach nur ein unscheinbarer Bahnhof, ein Gleiskreuz wo Menschenmassen umgeladen werden, und er erfüllt seine Aufgabe unspektakulär und frei von wichtigtuerischem, falschem Gehabe. Seine Gleisanlagen und die abgestellten Kesselwagen erzählen von der langen Zeit, die an ihm vorübergegangen ist und die nur matt lächeln kann über die zehn Minuten Besinnung, die ich mir dort von Zeit zu Zeit gönne, um ein wenig in sie zurückzuschauen.

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DIE WÖRTER

 

 

 

 

 

 

Um die Wörter zu verstehen, muß man zuerst das Schweigen kennenlernen. Das Schweigen, das zwischen den Wänden eines Zimmers steht, in das man lauschen kann. Man wirft den Stein in einen tiefen Abgrund und hört keinen Aufschlag, nur das Schweigen. Vielleicht lernt man daran, den Stein zu verstehen, oder aber das Wort für den fallenden Körper, der dem Blickfeld entschwunden ist: Stein.

In einem Wald gehen im leichten Wind, der die Blätter rührt. Blick ins Lichtkonfetti und der leise Beifall von Tausenden kleiner Hände. Daran das Wort "Blatt" gelernt. Und: "Wind". Ohne diese Worte auszusprechen. Ohne das Licht kann man nicht wissen, was ein Blatt ist und ohne die Blätter nicht, was der Wind ist. Und ohne das Schweigen zwischen den Wänden gäbe es keine Worte.

Wörter sind Gebilde. Aus Tönen. Aus Zunge, Gaumen und Atem. Aus Buchstaben. Man kann in ihnen tanzen. Durch das Schweigen und durch einen Wald. Man kann sie schleudern,

 

in einen tiefen Abgrund, und hört keinen Aufschlag. Nur den Wind im Lichtkonfetti und den leisen Beifall. Man kann sie sammeln, wie Blätter vom Boden. Stift, Papier, Tastatur und Buchstabe. Dann beginnen sie ihren Faden. Ohne daß man versteht, was sie tun, und doch tun sie es und man ist gerettet. Und weiß nicht wovor.

Man wartet. Lange, ohne ein Gefühl für die Zeit. Man sagt kein Wort und versteht plötzlich, was ein Wort ist. Das nicht gesagt wird und doch ganz nahe ist. Nahe bei den Augen, nahe beim Atem. In einer sachten Bewegung, einer fließenden Bewegung der Hand. Man versteht diese Bewegung und sagt ein Wort. Geräusch im Wind, der zwischen den Stämmen spielt. Der über die Weite daherkommt, von nirgendwo. Dahin möchte man zurückkehren, doch man kann es nicht. Die Wörter aber können es. Sie kommen von dort, wohin niemand zurückkehren kann.

Vor der Sprache. Lautlos. Vor langer, langer Zeit, es ist eine vage Erinnerung ohne Bilder.

 

Die Sprache, gesprochen, zerreißt die Ahnung. Nur die Wörter finden hinter diesen Horizont. Will man sie verstehen, so verstecken sie sich im Gesprochenen und verschleiern den Ausweg. Haben sie erst begonnen, etwas zu bedeuten, ist das Spiel längst verloren.

Doch sie sind freundlich und kommen zurück. Nur wer sie ruft, vertreibt sie. Im Schweigen jedoch kommen sie wieder. Warme Geschöpfe, freundliche Gebilde. Rätselhaft. Wer glaubt, sie immer verstanden zu haben ist ein armer Narr, der an der Oberfläche zappelt.

Man kann den Wörtern lauschen ohne das Gesprochene zu verstehen. Ihre Bedeutungen sind vage im Wind verloren und doch versteht man das einzelne Wort. Sein rastloses Hinaus, seine Bewegung über die Welt hin, die es sich nimmt. Die es faßt, wie keine Hand etwas zu fassen vermag. In einem Atem und einem Geräusch. Die Wörter nehmen ein Ding und lassen es sofort wieder los, damit es weiter bestehen kann. Sie bringen

 

einem die Zeit und den Raum ins Zimmer und halten einen darin fest. Wer die Wörter verliert, ist völlig schutzlos, in der Kälte.

Wir horchen in die Stille und die Wörter tauchen auf aus ihrem Nirgendwo. Sie lächeln ein rätselhaftes Lächeln und bleiben bei uns, wenn wir sie nicht fest anfassen. Wenn es uns gelingt, geduldig zu sein, nehmen sie uns mit, in die geheimnisvollen Räume unserer Ahnungen, die so zerbrechlich sind, und doch das Wertvollste, was wir haben. Ohne die Wörter wären wir armselig, kröchen ziellos und aufgeregt umher, ohne anzukommen.

Ein Wort nimmt meinen Tagtraum auf und meinen Herzschlag. Ich sage es nicht, ich will lernen, es zu verstehen. Ich hebe den Kopf wie über eine schwarze Flut und mein Lächeln kehrt zu mir zurück. Die Wörter kommen zu mir und erzählen mir ihre leisen Geschichten, kleine Blumen, schlafender Sand, stille Wolke. Ich bin gerettet. Und weiß nicht, wovor.

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DER LÄRM DER WELT

 

 

 

 

 

 

Ein Montagmorgen am Schreibtisch, bei geöffnetem Fenster, ist wie "permanent vacation" für mich. Draußen gehen sie ihrem Geschäft nach, die Geräusche dringen durchs Fenster, an den Hauswänden hin und her geworfen, verstärkt, verzerrt, manche auch verschluckt. Das Werktagsmorgenkonzert, das ich liebe. Nicht das sterile Schweigen der Sonntage, dem der gelangweilte Familienfrieden im Nacken sitzt und das mir eine Gänsehaut macht. Da draußen findet eine Stadt statt. Und alle machen mit. Alle, nur ich nicht.

Zum Glück brauche ich an meinem freien Tag an dem Gerenne dort unten weder teilzunehmen, noch muß ich mich schlecht fühlen, daß ich keinen Anteil daran habe. Ich sitze ruhig über dem Lärm der Welt, der zu mir heraufdringt, in der buddhistischen Stille der Redaktionsräume des Weltspielspiegels, zu der die Welt keinen direkten Zutritt hat. Hier oben erreicht mich keiner von denen, die da so lärmen. Ich bin weit davon entfernt und denke an den Spruch der alten Chinesen: man trinkt Tee, um den Lärm der Welt zu vergessen.

Nun bin ich kein alter Chinese und blicke nicht philosophierend über lichtdurchflutete Mandelhaine und kleine, gebogene Holzbrückchen über Bächlein in des Kaisers Konkubinengärten, wie wir das vom Chinarestaurant so gut

 

kennen. Ich bin mitten in Europa, wo nur der Dollar zählt und die schnelle Mark. Wo sie alle nach dem Schnäppchen rennen, bis sie einen Schrittmacher brauchen, damit sie überhaupt noch einen Schritt machen können. Und in solcherlei unbuddhistischer Umgebung reicht es nicht, Tee zu trinken um den Lärm der Welt zu vergessen. Es wäre an sich eine ungute Sache, diesen Lärm vergessen zu wollen, denn er ist eine Tatsache, um die sich ein Europäer im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht herumstehlen kann. Die Zeiten, in denen wir einfach Tee tranken und schon glücklich waren, sind unwiderruflich verloren. Wir müssen lernen, mit dem Lärm der Welt zu leben.

Viele tun es nicht und sind damit die Opfer unseres Zeitalters. Workoholics, manisch Hysterische, zu kurz Gekommene. In einer Zeit, in der eine so simple Tätigkeit wie Einkaufen bereits weitgehend zu verdeckter Beschaffungskriminalität geworden ist ( wir kennen es besonders vom Schlußverkauf, einer Art Kulturorgie, in der das Zeitalter sich selbst feiert ), lastet ein ungeheuerlicher Leistungsdruck auf dem Individuum. Was man da alles verpassen kann ! Was einem da alles entgehen kann ! Wenn man nur einen kleinen Moment zu spät ist, ist schon alles vorbei ! Erzählen sie denen mal was vom Teetrinken !

 

Und so öffne ich mein Fenster und setz mich an den Schreibtisch und höre dem Lärm zu. Aus dem die Welt hier besteht, mein Jahrhundert, meine Stadt, mein Wohnviertel. Ein schöner, echter Lärm, der sich nicht über mein Jahrhundert hinweglügt wie die toten Wohnanlagen im Grünen, wo man durch Wegsehen und Weglaufen versucht, sich vom Lärm der Welt zu erholen ( wenn man bloß nicht heut wieder keine Fernsehsendung verpassen dürfen müßte ! ). Ich muß bekennen, daß ich gerne in diesem Lärm lebe, ich will ihm möglichst nahe sein, denn wenn ich den Planeten wieder verlasse, möchte ich schon gewußt haben, was hier eigentlich los war. Und das kann ich nicht wissen, wenn ich den Lärm der Welt vergesse, sondern nur, wenn ich ihn mir ansehe, aus sicherer Entfernung, eben von hier oben zum Beispiel, von meinem Fenster.

Das Lächeln des Dörflers, klar, ungetrübte Freude, unverfälschte Offenheit. Jaja. Stellen sie ihn für eine Stunde auf die Wilmersdorfer Straße zur Sommerschlußverkaufszeit, und da ist ihm sein Lächeln vergangen. Und doch lächeln auch dort noch Menschen. Und dieses Lächeln hat die ganze Unfreundlichkeit und Heftigkeit unseres Jahrhunderts überlebt, und ich finde es deshalb viel interessanter. Dieses Lächeln kennt den Lärm der Welt, es legt sich mitten in ihn hinein und ist dabei eine sehr, sehr

 

menschliche Regung mitten in diesem Lärm. Diesem Lächeln bin ich dankbar. Es ist eine enorme kulturelle, menschliche Leistung, daß es überlebt hat.

Da draußen macht also der Lärm der Welt weiter und bald bin auch ich wieder mittendrin. Müßte ich immer mittendrin sein, würde ich verrückt werden, dafür sind wir nicht gemacht ( das wußten auch schon die alten Chinesen ). Man muß diesen Lärm ab und zu verlassen können ( ich spreche n i c h t von den 3 Wochen auf der Insel ! ), man muß mitten im Alltag ab und zu aus ihm heraus, um sich ihm als Mensch stellen zu können, ja, um ihn ab und zu sogar genießen zu können in all seiner aufrichtigen Schönheit. Das schöne Gezeter in der Warteschlange, die auf wunderbare Weise gelingende Hektik eines Freitagnachmittags, das faszinierende Strömen der Menschenmassen zu ihren Arbeitsplätzen, immer unter Zeitnot, und der Parkplatzkrieg unten vor dem Haus.

Und zuletzt wird es doch Nacht und sie schlafen alle und haben ihren Tag bestanden. Ihr Tagwerk ist getan und die Welt kann einen weiteren, ereignisreichen Tag verbuchen. Und der Lärm ebbt ab und dringt in ihre Träume, bis es am nächsten Tag lärmend wieder losgeht.

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REGEN

 

 

 

 

 

 

Ich wollte etwas zum Regen sagen. Wie er in großen Tropfen auf die Windschutzscheibe fiel, seine großen, weich zerklatschenden Grüße, vom Scheibenwischer im Intervalltakt fortgewischt. Ich kurbelte das Seitenfenster herunter und er strich mir über die linke Wange. Regen, der mich ans Singen bringt. Hier, an dieser Stelle, wollte ich etwas zu ihm sagen. Doch es gelingt mir nicht. Ich finde keine Worte.

Vom geparkten Wagen zum Tabakgeschäft, zum Lebensmittelhändler und zurück zur Haustür begleitete mich ein Feund. Feuchtete mir die Haare und das Gesicht. Frischer Beistand nach langen Stunden in abgestandener, ausgetrockneter Luft. Dieser Regen, mein Regen, in jedem Atemzug, den ich tief einsauge, der mich wieder lebendig macht. Freund über viele Jahre. Von den meisten Menschen verabscheut. Stört die Träume von Wärme und Glück.

Jetzt prallt er auf die Dachschrägen und die Teerpappe der Flachdächer und malt sie silbern. Von unten dringen die Geräusche herauf, in seinem Rauschfilter moduliert zu verengten Amplituden, ein

 

Zischen untergemischt, von Nebengeräuschen bereinigt. Ein gnädiger Himmel hat die Regler für die Höhen und die Tiefen hochgefahren. Anders ist er nicht zu hören, als durch die Abwesenheit der Mittelfrequenzen, denn es ist ein leichter Regen, dessen aufschlagende Tropfen selbst nicht zu hören sind im Geräuschbrei, dem plötzlich die Tiefe fehlt, die Dreidimensionalität. Der plan geworden ist über dem grauen Tageslicht.

Sein Grau, sein klarhelles Fallen, Streichen, Linien im Wind. Was soll ich über ihn sagen ? Daß er meine Traurigkeit mit seiner Seelenverwandtschaft besänftigt, weil er den Unterschied zwischen mir und der Welt aufhebt ? Soll ich sagen, daß er der Einsamkeit einen freundlichen Raum gibt, daß er fällt, dem Staunen über diese Einsamkeit zuliebe ? Daß er die große Zeit zu Tönen macht, zu einer Erfahrung aus nasser Nüchternheit ? Daß er mir hilft zu ahnen, wie schön so ein Menschendasein ist, wie klein und zerbrechlich ?

Ich entdeckte meine Freundschaft zu ihm lange bevor ich wußte, wie wertvoll sie sein

 

würde. Es war zunächst ein Spiel, ich spielte im Regen, lachend, trotzig, kopfschüttelnd und froh. In einer Zeit vor der nachdenklichen Ernsthaftigkeit der späten Jugend. Bevor das Dunkel über meinen Arglosigkeiten zusammenschlug. Als ich ihn dann auf den leeren weißen Straßen nach dem Tod der Schwester wiederfand, war das Spiel ernst geworden, und doch von einer nicht gekannten Zärtlichkeit. Wir gingen stundenlang über südenglische Landschaften und sangen leise Melodien, die uns allein retteten. Aus einem bösen Land, aus einem bösen Leben, aus einem bösen Traum. Aus bösen Erinnerungen an eine ehemals sorglose Zeit.

Morgen Angst und Himmel weit, Morgenregen, Sommerregen, Herbstregen. Regen in der Nacht, am Horizont vor einem Sonnenloch in den Wolken. Regen über einem Parkplatz. Dünner Regen der Ebenen, geschwinder, windiger Regen über Englands Wiesen, afrikanischer Regen, irischer Regen. Fluchten in fremde Hauseingänge, nasse, kalte Haut in durchtränkten Kleidern, warmer Guß in großen Tropfen und Gewitterregen auf dem

 

Wasser, hart und kalt wie die Hagelkörner, die er mitbringt, kein Entrinnen, keine Hilfe, nur die mitleidslose, kalte Nässe.

Ich liebe den Regen, ohne es so sagen zu wollen. Ich kann ihm nur begegnen, auf langen Straßen und über Felder hin und er weiß, daß er in mir einen letzten Freund hat in unserer sonnenhungrigen Zeit. Ich folgte ihm durch Herbstwälder und nördliche Küsten entlang. Ich hörte ihn und zog den Mantel an, um ein Stück mit ihm zu gehen. Ich sang ihm Lieder. Ich lauschte sehnsüchtig auf seine Mitteilungen, auf Dächer geschüttet, an Fensterscheiben geschrieben. Er wird mich nicht verlassen, ich werde ihm wieder und wieder begegnen dürfen und er wird mein trauriges Staunen aufnehmen und forttragen in die Jahre, die mir nichts erklären konnten. Er wird meinen Schlaf tief und sicher machen und mein Erwachen zu einer Frage umformulieren. Zu seiner Frage, einer lächelnden, kleinen Frage, auf die es nie eine Antwort gibt.

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GEISTERTANZ

 

 

 

 

 

 

Theater der Situationen des menschlichen Daseins. Situationen, die jeden Menschen sein ganzes Dasein lang begleiten. Menschliche Situationen. Die er aber deswegen nicht unbedingt zu beherrschen gelernt hat. Wir betrachten eine davon, die Situation an der Klippe. Die menschliche Situation an der Klippe heißt immer, daß eine tief eingreifende Veränderung vor einem steht. Nichts wird danach so sein wie zuvor. Das Unbekannte, in das der Mensch immer wieder schreitet. An der Klippe stehn und nicht wissen, was einen erwartet. Mensch sein.

Eine Situation an der Klippe. Eine alltägliche, und eigentlich ganz harmlose. Die Klippe zum Schlaf. Viele Tausend mal an dieser Klippe gestanden und über sie gegangen, um in die Abgründe des Schlafs zu fallen. Und doch vor jedem neuen Mal nicht wissen, was da mit einem geschieht, was einen dort jenseits der Klippe erwartet.

Man kann es sich einfach machen und sagen, daß man einschläft und dann träumt. So, wie man es Kindern erklären würde. Die alte Geschichte erzählen, von einer der verharmlosendsten Erfindungen unserer Kultur, dem Sandmännchen. Wir glauben aber nicht ans Sandmännchen. Die Klippe zum Schlaf ist eine weitaus großartigere Situation als ein glattes Einschlafen mit darauffolgendem Träumen. Es ist vielmehr eine wertvolle, ja, nahezu gnädige Situation, in der es uns nüchternen Kindern des 20.Jahrhunderts noch vergönnt ist, das Reich der Geister kennenzulernen, die wir eigentlich längst abgeschafft haben. In der es uns geschieht, daß wir in die weiten, warmen Räume jenseits des Lichts hinabsteigen, in denen mitten in der Moderne noch der Geistertanz stattfindet.

Was aber geschieht hinter dieser Klippe zum Schlaf ? Wie tauchen wir in die dunklen Räume des Schlafes ein ? Hinter den geschlossenen Augenlidern ist kein Schwarz. Schwarz ist der Raum zwischen den Sternen. Sehen Sie einmal hinein. Hinter unseren geschlossenen Augenlidern geschieht etwas

 

anderes. Da ist nicht die eisige, unerfüllte Kälte des weiten Weltenraums. Es ist eher eng dort und nahe. Und in all dem Brausen, Flimmern und Pulsieren wird etwas vorbereitet, kündigt sich eine Veränderung an. Während wir noch glauben, in eine Ruhe einzutauchen, erfaßt uns schon eine neue Bewegung. Dort, hinter unseren geschlossenen Augen und noch viel tiefer in den weitverschlungenen Gängen unseres Kopfes und des Nervensystems unseres ganzen Körpers formieren sich die Geister der Nacht zu ihren Tänzen.

Manchmal sehen wir sie schon kurz bevor wir wirklich eingeschlafen sind. Halbschlafträume. Visionen an der Klippe zum Schlaf. Gute oder böse Geister, oft ist es nicht einmal zu unterscheiden. Manchmal reißen sie uns fort, direkt in den Schlaf hinein. Manchmal erschrecken sie vor unserer plötzlichen Ankunft und werfen uns entsetzt in ein heftiges Aufschrecken aus einem Halbschlaf. Doch meistens halten sie sich abwartend zurück. Sie wollen nicht mit dem Bewußtsein zusammentreffen, das sie in unserer Wirklichkeit seit dem Zeitalter der Aufkärung so unerbittlich ausgerottet hat. Da warten sie lieber noch eine Weile. Denn sie können sich ihrer Sache sicher sein: früher oder später muß uns das Bewußtsein für einige Stunden verlieren und dann gehören wir ihnen ganz allein.

Im Schlaf gehören wir den Geistern der Nacht. Gestaltlose Gesellen, denen wir niemals begegnen. Die wir allenfalls ahnen können. Deren Tänze wir Träume nennen, weil uns nichts besseres einfällt. Weil wir ratlos bleiben, weil wir erkennen, daß wir nichts selbst beigetragen haben zu diesem Geistertanz. Weil wir reglos liegen, willenlos, ausgeliefert. Und sie spielen mit uns. Und wir haben keine Möglichkeit, dieses Spiel mitzugestalten, wie wir dies in unseren Tagträumen tun können und uns vor unserem Schlaf oft wünschen. Dabei meinen es die Geister der Nacht immer gut mit uns. Es ist unsere bewußtseinsbetonte Zeit, die sie verachten muß. Wir müßten es

 

nicht tun. Wir könnten sie durchaus als unsere letzten Freunde betrachten. Sie tanzen uns ihre mehr oder weniger wilden Tänze und flüstern uns geheime Botschaften ins schlafende Ohr. Großes Geheimnis ! Sie singen uns ein Leben vor, das wir versäumen. Spielen uns in wirren Szenen und ungesehenen Verkleidungen einzelne, von uns selbst erlebte Szenen vor und beruhigen unsere Ängste damit, von denen wir vielleicht nicht einmal etwas ahnen. Nur selten werden ihre Tänze so wild, ihre Stimmen so schrill, daß wir schweißgebadet aufwachen, immerhin gewarnt, ernst genommen und aus einer Katastrophe gerüttelt, die so nicht weitergehen darf. Wie gesagt, die Geister der Nacht meinen es ja gut mit uns. Sie sammeln aus unserer tiefsten, verborgensten Erinnerung die schlimmen Erlebnisse, die wir selbst so gerne verdrängen und weben uns Geschichten daraus, damit wir verstehen sollen, wer wir eigentlich sind.

Das eigentliche Problem ist, daß wir in der Wirklichkeit ihre Sprache nicht verstehen und uns die Choreographien ihrer Tänze meist unverständlich erscheinen. Nur im Schlaf verstehen wir manchmal den Geistertanz. Doch nach dem Erwachen, wenn unser Bewußtsein einsetzt mit seinen kausalen Ketten und seiner Vernunft, haben wir den Sinn des Geistertanzes vergessen. Dann denken wir, daß wir einen großen Blödsinn geträumt haben. Selbst wenn wir uns noch genau erinnern, daß wir im Schlaf alles genau verstanden haben, daß uns völlig klar war, was uns da erzählt wurde.

Wir erreichen die Klippe zum Erwachen, treiben an die Oberfläche, und die letzten Pirouetten der Tänzer der Nacht erreichen beinahe das Licht und den Moment, in dem wir die Augen öffnen. Wir wollen noch bleiben und die Tänze noch sehen, die noch angekündigt waren. Wir versuchen, zurückzusinken zu den freundlich bizzarren Stimmen, zu den unnennbaren Farben, die unsere Augen nicht kennen. Es ist, wie wenn man uns aus einer Vorstellung holt, durch die schweren Türen des

 

Zuschauerraums nach draußen gerufen, ins Licht und in den Lärm. Drinnen geht ohne uns die Vorstellung weiter, wir ahnen es und sind doch schon fort und in einer anderen Sphäre. Wir vergessen, was drin gesagt wurde, erinnern uns nur an Bruchstücke des ganzen Reigens und müssen fort, in einen schweren Tag.

Manchmal, wenn man uns nach dem Erwachen Zeit läßt, bleibt uns die unnennbare Rätselhaftigkeit der Gesellen der Nacht noch für einige Minuten. Sie haben uns aus unserem zerrissenen Dasein erzählt, von lang vergessenen Personen, die wir einmal liebten, von scheinbar unbedeutenden Gegebenheiten, von unserem Neid, unserer Schuld und unserem Ärger. Sie haben uns aber auch in Gegenden geführt, die wir noch nie gesehen haben, haben uns beschenkt, wie wir nie beschenkt werden und wir erinnern uns matt, daß wir sogar mitgetanzt haben, daß wir leicht waren oder schwer, aber doch von einem Gewicht, das wir nicht kannten. Wir waren wir selbst und doch ganz andere, wir konnten Dinge, die wir eigentlich nicht können und andere, uns normalerweise selbstverständliche Dinge waren uns plötzlich unmöglich. Wir fielen in Abgründe, wir mordeten, wir fanden uns in peinlichen Situationen bloßgestellt, wir waren gute Geschöpfe, wir waren auf einer panischen Flucht und wissen nicht mehr wovor, man hat uns belogen, aufgelauert, und plötzlich durften wir alles, was wir noch nie durften und fanden einen langgesuchten Frieden und nie getroffene Weggefährten.

Wir sitzen schläfrig am Frühstückstisch und haben etwas verloren. Gleich müssen wir los, weiter, gleich beginnt der Tag, der gute, wirkliche Tag, der uns am Leben weiß, inmitten der Welt, an der wir teilhaben. In einer schnellen, rätselhaften Welt, die wir gewohnt sind, die wir mit links erledigen, meisterhaft, kleine Künstler sind wir, Künstler des Alltags, frech, geschwind und pfiffig. Und haben doch um ein weiteres mal den Geistertanz verloren, der es so gut mit uns meint.

 

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 DER RÄUBER IM GESTRÜPP DER ANDEREN

Was hast du getan ? Augen sehen dich an, deren Blick dich trotzdem nicht trifft. Der an deiner Außenseite abprallt. Eine tiefenlose Stimme reiht Worte vor dir auf, die ein Fadengewirr an Bedeutungen vor dich stellen. Worte, die dich zu nennen scheinen und dich doch nicht nennen. Man hat dich gesehen. Man hat deine Worte gehört. Doch du erkennst dich nicht wieder in dem Gestrüpp, das sich da vor dir auftut. Du versuchst, in dieses Gestrüpp hineinzusehen, das der andere da um dich herum beschwört. Es gelingt dir kaum. Du erkennst Einzelheiten, doch du erkenst kein Zusammenspiel.

Du erkennst soviel, als daß du jemand in diesem Gestrüpp zu sein scheinst. Man sprich ja von dir, nennt deinen Namen. Redet von deinem Verhalten, das man auch bereits gedeutet hat. Deutung, die du nicht verstehst. Du bleibst stehen, setzt keinen Fuß in dieses Gestrüpp, kein Wort. Nur deine Ohren folgen in das Unterholz hinein und verlieren sich darin. Bis du völlig die Orientierung verloren hast.

 

Irgendwann bist du tief drin, im Gestrüpp des anderen.

Manchmal hebst du den Kopf, um über dies alles hinwegzusehen. Es gelingt dir ab und zu, deine Position zu erkennen. Und du läßt dich wieder zurücksinken, denn du hast gesehen, wie tief du in dem Gewirr bist, weit, weit vom offenen Feld entfernt. Was sollst du tun ? Du versuchst ruhig zu bleiben, keine Panik ! Es geschieht dir ja nichts. Du kannst sogar ein wenig im Dickicht umhergehen. Du kannst es erkunden. Du beginnst vorsichtig, deine Beobachtungen zu machen. Während man dich tiefer und tiefer in das Gestrüpp verwickelt, bis du schon dabei, dir deine Beute zu holen. Du schleichst unbemerkt im Dickicht des anderen umher, das dich nicht greifen kann. Es ist zu fremd. Es streckt keine Hand nach dir aus. Du sollst nur darin sein, soviel kannst du sehen.

 Die Situation macht dich zu einem stummen Raubtier. Man hat auf deine Einwände nicht

 

gehört. Dein Standpunkt wurde verworfen, er stört das Dickicht. Das wächst. Unaufhörlich. Auf dessen Aufbau du keinen Einfluß hast, du erkennst es mit einem bitteren Lächeln. Ja, du mußt wohl ein Räuber sein, du hörst abenteuerliche Einschätzungen deiner Person, die dich nur noch zum Lachen bringen können. Ein stilles, mienenloses Lachen, das du nicht zeigst, es würde doch nur mißverstanden werden. Also streifst du wortlos in dem Dickicht umher, das da um dich wächst. Schaust dich im Gestrüpp um und suchst nach einem Wort, einer Formulierung, einem Gedanken, den du noch greifen kannst und der dir bleiben wird. Der andere da vor dir läßt ungeheure Bilder entstehen, schlägt abenteuerliche Brücken, zieht schwindelnde Rückschlüsse. Du hast ihn längst verloren. Sein Gestrüpp bildet überraschende Zusammenhänge, die sich türmen, die nach deinen Fußgelenken greifen, über die du stolpern sollst. Warum sollst du stolpern ? Was soll dich zu Fall bringen ? Was hast du getan ?

 

Du findest es nicht heraus.

Es sind auch nicht die richtigen Fragen. Du hebst den Kopf und bemerkst, daß der andere verschwunden ist. Das Dickicht, das er um dich angelegt hat, ist undurchdringlich geworden, der andere ist dahinter zurückgeblieben, du kannst nicht einmal mehr die Richtung ausmachen,. in der er sein muß. Du bist allein im Gestrüpp des anderen, darin allein gelassen. Er wollte nichts von dir, er wollte dieses Dickicht. Seine Anwesenheit ist längst hinter seine Worte zurückgetreten, übrig bleiben die wirren Verknüpfungen, die unerhörten Behauptungen, die falschen Rückschlüsse. Die das Dickicht sind, in dem du gehst. Du brauchst dir keine weiteren Fragen mehr zu stellen. Du bist eben in einem Dickicht, und das genügt dir. Dein Schweigen ist längst keine Antwort mehr. Es ist Teil deiner neuen Rolle geworden, der Rolle des Räubers, des stillen Bösen, der sich unbemerkt seine Beute holt aus dem Gestrüpp der anderen.

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ÜBER ALLES HIN

 

 

 

 

 

 

Da rennt man seine Strecke ab, pünktlich, aber immer am Limit, gerade noch geschafft. Wenig freie Minuten passen in so einen Tagesablauf, das Stehen und Schauen ist zum Luxus geworden, den man sich kaum leisten kann, dabei ist man, sieht man es sich mal ganz nüchtern an, reich. Was da alles in der Wohnung steht, sich in den Regalen quetscht, dann das Auto auf der Straße unten..., was das alles gekostet hat ! Fragen sie mal jemandem, dem die Wohung ausgebrannt ist, was da alles so zusammenkommt.

Ein Redakteur des Weltspielspiegels ist kürzlich mit einem Extrem der Wohlstandsgesellschaft in Berührung gekommen: er ist Porsche gefahren. Da flitzt die Welt, über die man im Alltag sowieso schon abhebt, in einer ganz neuen Dimension von

 

Geschwindigkeit an einem vorbei. So als gehöre man schon gar nicht mehr dazu, rasen Häuser, Menschen, Brücken, andere Autos an einem vorüber. Man schaut, von einer Anhöhe kommend, auf ein Land über das man hinfegt, ohne es noch zu berühren. Entfernungen werden zu einem matten Abwinken mit der Hand, Steigungen gibt es nur noch als Neigungswinkel der Kühlerhaube. Man ist schockiert, aufgeregt, wie beim ersten Mal Achterbahn auf der Kirmes, und steigt aus wie aus der Raumkapsel, die einen wunderbarerweise doch zurück gebracht hat.

Und mitten in all dem Glitzertheater des abgehobenen Wohlstands tauchte plötzlich eine Fee auf. Haben Sie einmal ein Bild von Claudia Schiffers kleiner Schwester gesehen ? Ihr sah diese Fee zum Verwechseln

 

ähnlich. Es war eine Blätterfee, wie es sie nur zur Herbstzeit gibt. Sie sammelte Herbstblätter, legte sie unserem Redakteur vor, und die beiden betrachteten die Farben und Muster, die zerbrechlichen Linien. Da atmet man auf und das Herz schlägt wieder ruhiger, das auf dem Porschebeifahrersitz manchmal seine Frequenz etwas erhöhen mußte. Und die schmalen Hochgeschwindigkeitslippen werden wieder voll und formen ein zärtliches Lächeln. Die Fee lacht, quietscht vergnügt und erzählt unbekümmert.

Céline heißt diese kleine Fee, sie ist sechs Jahre alt und möchte unseren Redakteur gerne heiraten. Und weil es das im Feenland gibt, sieht unser Redakteur über alles was für ihn Geltung hat hinweg und weiß schon, wie er es macht: man wird den Porsche des Feenpapas

 

verkaufen und vom Erlös ein Wäldchen erstehen. Dann kann man immer Blätter sammeln und betrachten. Das ist der Plan.

Wir hören unserem Redakteur kopfschüttelnd zu, man weiß nicht, spinnt der jetzt ? Doch seine Begegnung mit der kleinen Fee hat immerhin dazu geführt, daß ein Lächeln in unsere Redaktionsräume Einzug gehalten hat, dem wir mit unserer ganzen journalistischen Pfiffigkeit nicht beikommen. Der Mann hat da etwas erlebt. Soweit wir verstanden haben, hat es mit einem Porsche, mit Wohlstand und mit einer kleinen Fee zu tun. Wenn wir näher nachfragen, lächelt er nur und sagt, daß er, zumal in billigen Allgemeinplätzen, das Ganze nicht erklären will, und daß es das Lächeln dieser kleinen Fee ist, das ihm über alles das hin bleibt, was er gesehen hat.

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 SONNE, DÄCHER, MARMELADE

Geben wir es ruhig zu: wer ist man schon ! Man hat Einige beieindrucken können, doch diejenigen, die einen besser kennen, sind schon nicht mehr so beeindruckt. Hat man Glück, so mögen sie einen wenigstens, aber da muß man dann schon Glück haben. Mögen sie einen nur, weil sie in irgendeiner Form von einem abhängig sind, so ist man schon wieder nur ein armer Tropf.

Das macht ja den Moment so interessant, wenn alte Bande zerrissen werden, alte Beziehungsmuster aufgeknöpft und Absprachen gekündigt werden: wer einen mochte, der bleibt einem. Die anderen verschwinden im Gestrüpp des Beindruckungs-Wettbewerbs.

Hihihi. Gut. Das wissen wir jetzt also und schauen friedlich über die Sonne auf den Dächern und

 

denken an Marmelade. Die Marmelade ist einem geblieben und die Sonne auf Dächern wird immer wiederkehren. Lachen Sie nicht ! So banal ist das ja gar nicht. Was bleibt einem denn? Das meiste verschwindet einem gegen den eigenen Willen im Werteallerlei unserer Zeit, man hat es abgehakt und das Interesse verloren. Nur an manche Wahrheiten glaubt man hartnäckig und ist besonders böse, wenn sie einem dann endlich zu Recht ausgetrieben werden. Weil man eben schon so wenig hat, auf das man sich noch verlassen kann.

Drüben steht die Birke und ihre Blätter flirren im Licht. Das ist schön und gut so und wird es bleiben. Und die stille Zärtlichkeit, die in der Sonne auf Dächern mitklingt, wird man anderswo lange suchen müssen.

 

Wann hatten Sie das letzte Mal den Eindruck, daß ein Mensch ihnen solche Zärtlichkeit hat widerfahren lassen, wie sie im Sonnenlicht auf den Dächern zu spüren ist ? Seien Sie mal ehrlich!

Und ist es nicht die innere Stille, die einen immer am meisten beruhigt hat und nicht etwa der zweifelhafte Beifall der anderen, der nach so kurzer Zeit ganz überraschend umschlagen kann ? Da sitzt man und denkt darüber nach, auf was man sich denn verlassen kann und wie man die innere Ruhe findet. Wichtig scheint sie ja zu sein, denn sonst würden nicht so viele kommerzielle Helferlein ihre vielen verschiedenartigen Programme anbieten können, die diese innere Ruhe erlangen sollen. Und klar doch, wir sind ja gewohnt alles zu kaufen, was

 

uns gut vorkommt, wir armen Tröpfe in unserer unselbständigen Zeit. Alles muß uns geboten werden, was können wir denn noch selbst ?

Ja: was ? Es bleibt eine bange Frage und eine vorsichtige Antwort ist hier ja schon formuliert. Denken Sie nur an die Sonne auf den Dächern und an die Marmelade. Und an die, die ihnen geblieben sind, nachdem eine Absprache mit ihnen gekündigt, irgend ein Band mit ihnen zerrissen oder eine Beziehung zu ihnen beendet worden ist. Die sie nicht weiter beeindrucken mußten und doch sind es Freunde geblieben. Darüber denken wir nach, hier, in der Sonne, die auf die Dächer scheint und die Blätter der Birke flirren läßt. Und es wird uns ganz warm ums Herz und still in der Seele.

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ACH, DIESES GRAU

 

 

 

 

 

 

Der grippale Infekt eitert durch die Nebenhöhlen unseres Kopfes und erinnert uns daran, daß wir aus Zellen bestehen, ein riesiges Gewabbere aus Biologie, Säften, Nervenverbindungen, Viren, Freßzellen, Körperchen, die disorientiert herumschwimmen und machen was sie wollen. Man wacht eines morgens auf und hat Kopfweh. Hinter den Augen sitzt ein Teufelchen und hämmert gutgelaunt gegen den Augennerv, jawohl, es ist seine Zeit und aus diesem Tag, ätsch, wird nix !

Wir sitzen am Fenster und wissen nicht so recht, ob uns die Gelenke oder die Knochen mehr weh tun, oder ob sie, mal genau hingefühlt, überhaupt weh tun. Schmerz ist eigentlich etwas Eindeutigeres als das, was da mit uns angestellt wird, und wären wir klar im Kopf, ja dann könnten wir es feststellen, aber im Kopf quibbert das Fieber und leuchtet glänzend aus unseren Augen.

 

Klar, jetzt täte uns Ruhe gut, etwas Sonne und Wärme vielleicht. Der grippale Infekt tut uns aber selten den Gefallen, im Juni aufzutreten, und so sehen wir in das ewige oktoberliche Grau hinaus, das vorbildlich mit unserem grippalen Infekt kooperiert, ja, Geschäftsfreunde sind sie sozusagen, jeder hilft dem anderen ein wenig auf die Sprünge, sie haben das Monopol, da kann sich der Kunde nun ärgern, ham wer nich, jibts nich, müssen Se woanders kiecken.

Woanders können wir uns, zumal krank, nun aber genau nicht umsehen, wir starren ins Grau und ergeben uns in unsere Rolle, angeschissen zu sein. Wir erinnern uns: da gab es ein anderes Leben, mit Farben, und so, mit Lichtbahnen am Himmel, Konturen, da gab es eine Dreidimensionalität, frohe Empfindungen und schnelle Gedanken im Kopf. Das ist dahin. Das Teufelchen hinter

 

den Augen grinst sich eins und hämmert froh weiter.

Und doch beginnen wir nach einer Zeit, diesen Ausnahmezustand zu mögen. Eine Auszeit, eine Pause, niemandem entgegentreten müssen und sich voll seiner wehen Biologie widmen zu können. Und wir werfen hinterlistig die kleinen bunten Dragees ein, die das Teufelchen bei seinem Gehämmere ans Fluchen bringen. Weil wir es gar nicht mehr so spüren. Auch ätsch. Und das Grau ? Ja, das liebe Grau ist im Grunde eine perfekt schöne Farbe, um das Ambiente für unseren Zustand zu adeln. Alles hilft mit, und unser grippaler Infekt wird eine hinreißende Inszenierung. Au weh, au weh singen wir, der vollen Tragweite unserer Tragödie bewußt, die Arie des armen, krankheitsgeschüttelten Arbeitnehmers. Langen zum Telefon und melden uns krank. Wieder ätsch.

 

Der fiebrige Blick ins Grau wird freundlich und fragt, ob es uns von allein denn gelungen wäre, einen so außergewöhnlichen Zustand herbeizuführen. Alles kalt, naß, fiebrig, weh, aber eben auch ruhig, und allein bei der wunderbaren Erfahrung des eigenen Zellhaufens, der wir so sind. Das Teufelchen hat schon den Hammer fallenlassen, wir grinsen breit und schneuzen uns etwas unbeholfen. Ach, Schleimerei und Berg von verbrauchten Taschentüchern, die überall herumliegen und uns zeigen, wie hilflos wir sind. Wir kriechen in der Wohnung umher, legen uns zum Dösen ( an Schlaf ist nicht zu denken, klar ) hin und erleben die Zeit des Tages, wie wir sie sonst nie erleben. Grau, still, ereignislos und ohne Ende, das aber dann doch irgendwann kommt, so plötzlich, daß wir es wahrscheinlich verschlafen.

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ALLER ANFANG

 

 

 

 

 

 

 

Es gab Aufbrüche, da war es einem wurscht wohin es gehen würde, so voller Elan drängte alles vorwärts, und oft erinnern wir uns heute ja auch tatsächlich nicht mehr daran, wohin es denn gehen sollte. Es war alles enorm wichtig, soweit erinnern wir uns, da gab es ein verheißungsvolles Anderswo, und genau da wollten wir hin. Unruhe trieb uns voran und es konnte nicht schnell genug gehen und es war nicht daran zu denken, den Aufbruch aufzuschieben.

 

Nun ja. Die Unruhe ist uns zumindest geblieben. Sie stellt sich seltener ein und nicht mehr so heftig, gewiß. Doch wenn wir wochenlang wieder nur unserer lieben Brotarbeit nachgegangen sind steigt wie leiser Rauch die Unruhe in uns auf. Wir ignorieren sie ratlos, bis sie in unsere Träume gerät und uns ans schlechte Gewissen bringt. Ja, wir wußten es schon seit einer Weile, daß wir irgend einen Aufbruch formulieren, beschließen, durchführen müßten, egal wie wir´s nennen, wir müssen los. Wenn es uns nur noch so unbeschwert gelänge, an irgend einer Richtung völlig unvoreingenommen Interesse zu empfinden.

 

Vielleicht hätten wir es als Gehende leichter, als welche mit einem Ziel vor Augen und einem

 

Plan in der Tasche. Doch sind wir ehrlich: das haben wir nicht mehr. Wir haben eigentlich nichts mehr zu erledigen, für die großen Aufgaben sind wir ohnehin zu blöd und für andere schöne Aufgaben gibt uns keiner eine müde Mark und unser Vermieter will natürlich sein Geld. Trotzdem sollen wir also nun irgendwohin aufbrechen, die innere Unruhe sagt es uns, wir schauen uns fragend um, doch da bietet sich nichts an. Also bleibt uns wie bei so vielem wirklich Entscheidenden im Leben die Lösung dieses Rätsels wieder ganz alleine überlassen. Ohne Hilfe stehn wir, da hilft kein Fernsehen, keine Zeitung, kein Werbespot. Was, zur Hölle, sollen wir tun ? Zumal wir wissen, daß wir es wie immer ganz alleine tun werden und es keine Maus hinter dem Ofen hervorlocken wird, was wir da unternehmen. Ganz so naiv sind wir nun wirklich nicht mehr.

 

Und deshalb gelingt es uns auch nicht, irgendeinen Sinn in unser Tun hinein zu interpretieren. Wir wissen ja längst, daß es auch ohne uns sowieso ganz anders kommt, daß es doch recht zweifelhaft bleibt, was der Mensch so erreicht hat, ja, daß doch die meisten heut nur noch irgendwie ihr Schäfchen ins Trockene bringen, ohne an viel zu glauben bei all dem, was da

 

so um sie herum vorgeht

 

Unter den Redakteuren des Weltspielspiegels entsteht sie auch, diese Unruhe zum Winternende hin, diese vage Aufbruchsstimmung. Der eine oder andere hebt den Kopf und schaut zum Fenster hinaus, und uns fällt auf, daß das schon ein recht guter Anfang ist. Der Mensch folgt seinem Blick, mehr als seinem Verstand, mehr als seiner Bequemlichkeit. Und so haben wir schon ein Vorhaben definiert: das Schauen. Müde sind unsere Augen geworden im grauen Winter, viel in Räumen von Wand zu Wand geblickt im gelben Licht der Glühbirnen, das so recht keine Farben aus den Dingen ruft. Wir recken uns und vertreiben den Winterschlaf, den unsere Spezies eher als eine Winterlaschheit kennt. Wir wagen uns heraus, noch etwas beklommen und ungelenk. Fragen wir nicht nach Richtungen und Zielen, sonst rollen wir uns nur gleich wieder zum Winterschlaf zusammen. Wir sind entschieden zu alt, um „unternehmungslustig“ zu sein, machen wir uns nicht zum Trottel. Bitte !

 

So nach und nach gelingt es uns, in die Unruhe etwas gute Laune einzumischen. So ganz sachte. Eilig haben wir es nämlich nicht mehr, die Geschwindigkeit ist

 

etwas, das die emsige Betriebsamkeit da draußen schon genug  produziert, und eins ist klar : auf dieses Narrenkarussell aufspringen werden wir nicht, wir werden unseren eigenen Aufbruch machen. Wir können uns Zeit lassen, uns ist schon so viel durch die Lappen gegangen, daß wir uns nicht mehr davor fürchten müssen, es könnte wieder geschehen. Wir wissen längst, daß wir niemanden zu beindrucken haben. Wir reagieren nur auf diese Unruhe, diese leise, vorsichtige Unruhe, die uns von neuem befallen hat und die das immer und immer wieder tun wird. Sie wird uns weiter vorantreiben, wenn auch gemächlicher als früher und uns zu neuen Aufbrüchen anstacheln. Wir erinnern uns nicht einmal mehr an alle die Anfänge, die wir gemacht haben, wir erinnern uns nur, daß es viele waren. Und dieser wird wie sie alle sein, nur eben wieder etwas träger und ungefährer. Das machen die Jahre und die Erinnerungen an schwere, ergebnislose Anfänge, die wir hinter uns gebracht haben. Und doch ist alles wie es immer war. Es geht weiter, der Winter ist vorüber und wir heben den Blick. Wir orientieren uns neu, konstatieren, was verloren ist und was uns blieb, schütteln das Vergangene ab und brechen auf in ein neues Jahr.

 

 

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THE SPELL OF THE MUSIC

 

 

 

 

 

 

 

Ein Tisch am Rand eines Meeres, Ballet des Mitternachtsregens, das an die Fensterscheibe gefriert in einer Winternacht, Wind von regnerischen Küsten, dessen Botschaft in den Bäumen entlang der Straße weint, die einer hinuntergeht, geschwind, eilig, und der nur kurz überrascht aufhorcht in diese Mitteilung aus einer anderen Zeit. Blätter, die einen herbstlichen Gehweg hinunterwehen, auf dem einmal einer stand und seine Lieder für die Passanten sang. Gebrochene Blumen auf einem Gartenpfad, Morgenlicht in erloschenen Augen, ein Lächeln, wie für die vielen verlorenen und gewonnenen Jahre, Erinnerungen an Photographien an den kalten Wänden eines Zimmers, in dem nie zwei gewohnt haben. Einen Brief in der Hand halten, einen Brief von weit her, auf den keine Antwort mehr möglich ist.

 

Schöne Worte, die verklingen und es bleiben einem die Eisblumen an den Füßen der Frostprinzessin eines Winters. Zerstreute Bilderbuchseiten, Fensterflügel, die offen stehen, ein sich entfernender Zug in der

 

Morgensonne.

 

Tote Blätter an einem Nebeltag, nie gesandte Briefe und erinnerte Gesichter. Morgenangst und Himmel weit, die Stimmen der Engel, die das Urteil verkünden. Sterbendes Jahr, neues Jahr, und wieder ein Abschied, Blick durchs Fenster, man wußte es immer schon und es kam wieder so. Man hat keine Tränen mehr, die Jahre werden es fortwischen. Das Lächeln allein, wenn man an die Lieben denkt, an die verlorenen Träume. Immer wieder aus dem Zuhause getrieben, keine Ruhe gefunden, keine Zuversicht, das Los eines jeden : man wird nicht gebraucht.

 

Die Sehnsucht läßt sich nicht auf eine Mauer schmieren, sie wird nur von Melodien getragen, die verwehn. Doch sie läßt auch das Herz schlagen, das schlägt und schlägt, pausenlos, weil es muß. Man wirft den Zaubermantel, öffnet die Augen in die Zeit, sammelt Geschenke aus den Momenten, Licht und Geheimnis, weicht direkten Fragen aus, was wollen die dort draußen von einem ? Man tanzt das Spiel

 

durch die Welt, man singt, es kümmert einen längst nicht mehr, ob sie es verstehen. Und die Stimme wird Gebet, hingerissen, Atmen sein der klingt, Strom der fließt, endlos, ohne nach seinen Richtungen zu fragen. Lange ist es her, lange, und nun ist es vorbei. Die Stimme hat sich das Schöne ersungen, das einem die Gedanken nicht erobern konnten.

 

Man hat es alles eingefangen, den Tod, der in der ersten Reihe sitzt und lächelnd zuhört, da er weiß, daß zuletzt alles ihm gehören wird; den Lebensreigen der Liebenden, Prinz und Prinzessin mit den leichten Schritten des Anfangs einer Liebe; die Feen die wissen, daß es keine Zeit für Liebeslieder ist und die den Finger vor die Lippen heben; sogar den Zauber der Musik selbst, der einem zuletzt geblieben ist.

 

Lange Jahre vergehen in Schweigen bevor man sich zuletzt wieder an die Musik wendet. Selten spricht man die Wahrheit über seine Gefühle in diesen Tagen. Doch die Lieder singen

sie leicht und offenherzig. In

 

Augen sah man längst verlorene Wahrheiten, doch zuletzt bleiben alle nur die Figuren eines einsamen Spiels, in das sie nicht eintreten werden.

 

Man sagt seine Lügen hin, um sich nicht ausliefern zu müssen, man verbannt die Wahrheit in Tagträume und einsame Tränen. Man öffnet sein Herz nicht mehr leichtfertig.

 

Man hat nur noch die Musik. Ein kleiner Junge am Meer versteckt seine Tränen und das Licht stirbt an den Schatten. Es gibt keine Feen mehr.

 

Und es wird nie mehr dasselbe Gefühl sein, zu lieben, auch wenn der nächtliche Sommerregen weiß, daß man nicht mehr fortgehen wird, doch die Zärtlichkeit stirbt langsam in einem hin und die Liebe, die einem einst gehörte wird weggelegt auf ein Regal.

 

Was bleibt, ist der Zauber der Musik.

 

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SCHEINWELTEN

 

 

 

 

 

 

 

Die Frage nach dem Sein und dem Schein hat die Philosophie und die Gemüter vor und nach der Aufklärung eingehend beschäftigt. Die Frage, ob es sich nun um die Wirklichkeit oder nur um einen Anschein handle, was wir so alles unter Welt verstehen hat kluge Köpfe jahrelang beschäftigt und hunderte von Seiten in Büchern gefüllt. Nun, wir haben es da, wie in so vielem, heute einfacher. Wir haben die virtuellen Welten im Internet. Da fragt keiner mehr nach dieser alten Gretchenfrage vom Schein, denn schon der Name spricht es ja ganz gelassen aus : virtual reality ist es eben, scheinbare Wirklichkeit. Nur um des bloßen Scheins willen hängen wir stundenlang vor den Monitoren, was die letzten Aufrechten in unserer Zeit so empört, gehen unserer Neugier nach, nicht so sehr nach Wirklichkeit als eher nach unserem Bedürfnis, zu fantasieren, zu spielen, uns zu bewegen, eben nur scheinbar zu bewegen, während der Speckgürtel um unseren Bauch vor dem Monitor bestens gedeiht ( der der letzten Aufrechten gedeiht vor dem Fernseher oder sonstwo ).

 

Da jammern unsere Lieder von der CD, die im Rechner abgespielt wird, durch die Redaktion des Musikverlags im HSE Verlag während wir dies schreiben. Jahrelang haben wir Lieder geschrieben, aufgenommen, in der Schublade verstauben lassen. Jetzt bieten wir sie im Internet an in unserer neuen Spielwiese. Scheinbare Spielwiese, denn sie ist ja nirgendwo und auch unsere CD kann draußen, in der wirklichen Kommerzwelt, keiner koofen ( ebensowenig wie die der letzten Aufrechten übrigens ). Ja, wir erinnern uns, da war die Vorstellung in jungen Jahren, von der Musik zu leben, Musiker zu sein, Vorstellung eben, Schein. In Wirklichkeit sind wir hingegangen und haben unsere wirkliche Arbeitskraft verhökert   ( wie die letzen Aufrechten

 

wiederum ), unerkannt, im Verborgenen, gut, da waren wir ein Musikunternehemen, aber eben nur in einem Traum, einer scheinhaften  Wirklichkeit, irgendwo zwischen Frühdienst und Überstunde.

 

Der Mensch braucht ja auch die Vorstellung einer besseren Welt, als der öden wirklichen Welt da draußen. Braucht seine Scheinwelten, hat sie sich immer zurechtgeglaubt, so sehr, daß die Erkenntnis der Wirklichkeit in teilweise beängstigender Weise verlorenging, man denke einmal an die selbstkasteienden Pilgerhorden des Mittelalters auf dem Weg ins gelobte Jenseits. Das Stellen der ernüchternden Frage, was denn nun aber wirklich zum Menschenleben gehöre und was nur Schein sei, war da sicher von tragender Bedeutung für das Lebensglück der Menschen ( und gerade das der letzten Aufrechten, weiß Gott ! ), das ist unbestritten. Und gottseidank, oder besser : gottzumtrotz, wurde sie ja auch gestellt und hat uns z.B. von irrgläubiger Gottesfürchtigkeit errettet für alle Zeiten.

 

Und doch : hartnäckig glaubt der Mensch an seine Scheinwelten, ob es nun der Glaube an die scheinbare materielle Sicherheit des Kapitalismus ist oder der Glaube an die einzig richtige, rettende Ernährung. Da wird viel Scheiß ( Verzeihung ) zusammengeglaubt und ab und zu täte da auch wieder etwas Ernüchterung gut. Und nun ist mitten in unsere aus den Nähten platzende Zeit auch noch die virtuelle Wirklichkeit des Internets geboren worden. Das ist nun so eine wunderbare Einrichtung, daß sie dem Irrglauben an die Welt des Scheins alle Türen und Tore öffnet, durch die die großen Toren unseres Jahrhunderts sicherlich auch unbedenklich strömen werden, mit voller Kraft unterwegs, die Frage nach der Wirklichkeit zu vergessen und

 

 

völlig in den zweifelhaften Gängen des Internets und seiner Scheinwelt verloren zu gehen.

 

Ja, was soll man da machen ?! Idioten hat es immer gegeben, und wenn einer in der virtuellen Wirklichkeit nicht mehr weiß, daß er sich hier nur in einer Scheinwelt bewegt, dem ist eh nicht mehr zu helfen. Doch der wäre sicherlich auch nicht in der Lage zu begreifen, daß sein Fußballverein nicht die Welt ist, oder sein blödes Eigenheim im Todesgürtel der Straßennamen von heimischen Vögeln und Kleintieren, der droht, unsere Städte zu erwürgen. Nein, lassen wir die Idioten bitte beiseite, wenn wir von Scheinwelten reden ! Man kann jedes Konzept sofort aus den Angeln heben, wenn man allein auf die Idioten blickt, die sich seiner angenommen haben. Sehen wir uns lieber das fröhlich-überraschende Zusammenspiel von Schein und Wirklichkeit an, das uns die Scheinwelt des Internets anbietet :

 

Ein wenig glauben wir ja zuletzt immer an unsere Vorstellungen von uns selbst, d.h., wir leben immer in der Täuschung, ein wenig diejenigen zu sein, für die wir uns bloß halten. Besonders gut kennen wir das von den anderen, wenn wir feststellen, für wen die sich alles halten, was sie dann aber so gar nicht darstellen. Gut, und ebenso ist es natürlich bei uns selbst : wir haben Vorstellungen von uns, die eben nur Vorstellungen sind, aber keine Wirklichkeit. Nehmen wir also den Musiker. Immer hat er sich vorgestellt, Musiker zu sein, seine Lieder aufzunehmen, die andere dann anhören könnten. Das war aber nie wirklich so ! Denn da war die liebe Wirklichkeit, und die hatte da ganz andere Vorstellungen davon, was unser Musiker war - nämlich : kein Musiker, da er ja keine Musik machte. Zumindest konnten andere sie nicht anhören, und was wir innendrin

 

 

auch noch sind, hat die Wirklichkeit noch nie interessiert!

 

Wirklich ist wahrscheinlich nur, daß wir atmen, essen und trinken müssen und schlafen. Bei den Gedanken beginnt alles schon problematisch zu werden, wollen wir hart an der Wirklichkeit bleiben. Vorstellungen werden geradezu vage bis zweifelhaft, halten wir sie gegen die Wirklichkeit. Es sei denn, sie finden einen Weg in diese Wirklichkeit hinein. http://www.blueglobe.de hat es geschafft ! Von der Vorstellung zum Weltspiel und von dort in die Wirklichkeit des Internets. Sehen Sie nach. Vielleicht verstehen Sie, wie wir es meinen.

 

Zum Abschluß aber noch ein Tip an alle unverzagten Technikgläubigen : Wer allein ans Internet glaubt und sich vorwiegend in ihm bewegt, ist ein armer Tropf der keinen Bruchteil der Welt kennenlernen wird, in der er lebt ! Behalten Sie den Überblick, es GIBT eine wirkliche Welt ! Sie findet nicht im Internet statt. ( Hinweis für die letzten Aufrechten : aber auch nicht nur außerhalb des Internets ! )

 

Jetzt kommt also das Internet daher, die CD erscheint darin und andere haben die Möglichkeit, sie zu bestellen. Solange sie es nicht tun ist aus unserem Beispiel plötzlich ein eben erfolgloser Musiker geworden, doch er IST einer geworden, seine Vorstellung ist zuletzt in der Wirklichkeit aufgegangen und hat diese Wirklichkeit selbst verändert, denn es gibt jetzt einen Musiker in ihr, der zuvor nicht da war. Wirklich ! ( da kann der letzte Aufrechte nur staunen, der immer noch nur das ist, was er immer war und immer bleiben wird :                                            der letzte Aufrechte eben ).

 

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OHNE WORTE UND GEWICHT

 

 

 

 

 

 

 

Man horcht in sich hinein und hört ihn lachen. Bitter, hämisch. Man spürt ihn näherkommen, immer näher, und man hat schon begonnen, hinter den eigenen Eigenschaften und den eigenen Verhaltensweisen zu verschwinden. Nur als Hochernder bleibt man noch übrig. Als Erinnernder. Und doch gelten die Angriffe derer die einen richten einem selbst. Weinende Gesichter, Augen, in denen die blanke Angst, das Entsetzen steht. Man erinnert es. Blickten einen an oder zu einem hin. Man vermag den Kopf nicht mehr oben zu behalten und die Kälte steigt einem über den Scheitel. Milchiges etwas, in dem man treibt, die Klarheit verloren.

 

Er kommt näher. Bruder, Freund, unversöhnlicher Feind. Früher tanzte ich mit dem Wahnsinn, begleitete ihn mit leichtem Schritt und schrieb ihm Geschichten. Doch der Dämon blieb zuletzt beim Zauberlehrling. Und hörte nie ganz auf. Nie ganz auf. Nur meine Schritte waren manchmal geschwinder. Doch wenn ich ruhte, holte er mich wieder ein. Und nun hör ich ihn kommen.

 

Das hab ich nicht getan ! ( Und doch hab ich es getan, ebenso,

 

 

wie es mir widerfuhr ). Die Erinnerungen sprechen englisch, doch ich verlerne auch die Sprache meines Königreichs und meiner Herzblumen. Sprache, in der wir sangen und träumten. Der Wahnsinn spricht deutsch. Nie war ich ihm so fern wie im langen Jahr in meinem Königreich.

 

Man will einfach nur vergessen, daß es die Ungeheuerlichkeiten gibt und man sie gesehen hat. Bomben auf Behausungen, schneller, beiläufiger Tod für Wehrlose, in Büchern, in Filmdokumenten, in der Zeitung. Ausgelöschte Dörfer, in denen noch ein paar herrenlose Schweine umherirren. Blut rinnt über die Hand der Mutter. Entsetzlicher Frieden, den es nie gab, der immer eine Lüge blieb. Jetzt höre ich den kommen, der aus meinen Kopf ein ausgelöschtes Dorf macht.

 

Angegriffen werden, ratlos sein, ohne Gegenwehr, man wird aus seiner Heimat geworfen, die es schon lange nicht mehr gibt. Beschämt. Gedemütigt. Welche Haltung wahrt man noch ? Warum bleibt mein Kopf noch der höchste Punkt meiner Gestalt? Es wird unbegreiflich und die Handlanger nähern sich, die doch

 

auch nur das Falsche tun können. Sie werden Gericht halten, ich ahne es und stehe unbeteiligt und matt. Ich signalisiere müde mein Einverständnis, die Figuren des Wahnsinns fortbringen zu lassen. Ich verstehe es nicht, denn einer bleibt ja doch zurück : der Wahnsinn selbst.

 

Fände ich Türen, ich schlösse sie so rasch ich kann. Doch wie lange schon verlassen gähnt mein Haus fensterlos und ohne Tür und Riegel. So kauere ich wortlos in den verlassenen Räumen, die einmal das Leben kannten und warte. Hör seine Stimme sich nähern und weiß, daß es kein Entrinnen mehr gibt. Und eine abgrundtiefe, schwarze Furcht hat mich ergriffen, wie ich sie nie kannte. Sich nicht mehr behaupten zu können. Nach so vielen Katastrophen ist die wirkliche, die letzte große Katastrophe noch gar nicht geschehen. Ich erwarte sie. Und sie wird kommen.

 

Den Schlaf erreiche ich nicht mehr. Damit er alles fortwischt. Ich atme einmal noch tief durch, doch meine Schilde sind zerhauen. Narrentanz, der wild um mich beginnt und dem ich nicht mehr folgen kann. Doch der

 

Kreis, den er um mich bildet, hat sich geschlossen.

 

So schaue ich in alte Horizonte, hier, über den Dächern und weiß, daß ich sie nicht mehr erreichen werde. Das Spiel ist aus, verloren, und seine Regeln gelten hier nichts mehr. Die Fensterhöhlenaugen ausdruckslos. Finster. Kein Leben regt sich hinter ihnen, nur ein Tod.

 

Die Worte fließen bleiern in die Stille und sind verloren. Sinnlos, die Hand auszustrecken, es nimmt sie keiner. Der Blick zum Fenster über vier Etagen wird ein stummer Schrei, vor dem ich erschrecke. Und noch einmal such ich den Schlaf, den Freund, den schelmischen Gesellen, der mich als anderen erwachen läßt. Ich schließ die Läden auf diesen Tag, als seis mein letzter. Will ihn vergessen, will träumen, ein anderes Leben gelebt haben. Ich spür ein Lächeln auf meinen Lippen und weiß für den Moment nicht, ob es der Wahnsinn ist, der es mir schickt. Ich weiß nichts, ich spür es nur. Bin ohne Worte und Gewicht.

 

Und hör ihn kommen.

 

 

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 HOFFNUNGSSCHIMMER IM ELEND

 

Berlin Kreuzberg gehört dem Hund. Die Oberfläche seiner Gehwege wird täglich mit einer garantiert frischen, nahezu nahtlosen Hundescheißedecke bedeckt. Die Bevölkerung müht sich, frei bleibende Stellen mit Zigarettenkippen, zerdrückten Bierdosen, Pappverpackungsfetzen und sonstigem Müll zu schließen. Doch es gelingt trotzdem nicht immer, die Oberfläche von Straßen und Gehsteigen völlig zu bedecken.

 

Zudem noch hat eine Bewohnerin des Hauses 71 in der Graefestraße mittels eigener Initiative einen geradezu provozierenden Fremdkörper in die nahezu perfekt funktionierende, flächendeckende Oberflächenveredlung des Stadtteils hineinkomponiert : Der Gehweg vor diesem Haus, ursprünglich eine normalverschmutze, also völlig unauffällige Zeile in der Straße weißt ein Quadrat mit Erde, eine kleine Rabatte auf. Diese miesgrau-braunen Rabatten aus faulender Erde, die zur Straße hin in die Gehwege eingearbeitet sind und die die Stadt aus Kostengründen längst nicht mehr begrünt, werden von der Bevölkerung normalerweise als

 

behälterlose Mülltonnen benutzt ( manchmal finden sich dort bizarre Fundstücke, Teile angebrannter Sofas oder verfaulte Wintermäntel etwa). Nun hat jene Bewohnerin eine solche Rabatte mit einem kleinen Holzzaun umgeben, in mühsamer Arbeit die seit Jahren gewachsene Schicht aus teilweise bereits zerstäubtem Hundekot, Stoffetzen und vergohrener Pappe abgetragen und Blumen und Sträucher gepflanzt. Sie hat einen richtigen kleinen Garten vor dem Haus entstehen lassen, was unseren Beifall und unsere uneingeschränkte Hochachtung verdient !

 

 

Die Bevölkerung, die natürlich einfach nicht in der Lage ist so einen kleinen Rabattengarten als solchen zu erkennen, ( wo hat man denn so etwas je schon gesehen !? ) benützt diese Gartenrabatte natürlich weiter in der gewohnten Weise : als behälterlose Mülltonne. Der eine oder andere mag sogar durch den Zaun der sie umgibt zu dem Gedanken hingerissen werden, es handle sich um einen befestigten Müllplatz. Jedenfalls fischt unsere wackere Mitbewohnerin jeden Tag Papierfetzen,

 

Bierdosen und anderen Müll zwischen den Bonsai-Sträuchern und Frühlingsblumen aus ihrem kleinen Beet heraus und lächelt geqält, wenn man ihr dabei vor dem Haus begegnet und ihr Mut und moralische Unterstützung zuspricht. Sie hält eine kleine, abgerundete Stichschaufel in der Hand, wie wir sie von Gartenarbeiten kennen. Jedoch nicht, um die Erde umzugraben oder um Blumenzwiebeln zu setzten. Nein. Vielmehr dient das schlichte Freizeithandwerksinstrument dazu, die frischen Hundekotknollen aus dem Beet zu entfernen. Nur mit einem hat die stolze Gärtnerin kein Problem : gedüngt wird ihre Parzelle leidenschaftlich und völlig unendgeltlich : von Hunden und Betrunkenen !

 

Jedesmal wenn wir an diesem Gärtchen vorbeikommen freuen wir uns an seiner Farbenvielfalt, dem dunklen Grün der Sträucher, dem Rosa und gelb der Stiefmütterchen, und wir ziehen den Hut vor dem Mut und dem geradezu klassischen Trotz unserer Mitbewohnerin. Einem Trotz und Willen zum Respekt vor dem Leben, der zuletzt den Menschen erst zum Menschen

 

macht und uns den Rest eines Hoffnungsschimmers für die Menschheit vegönnt. Wir selbst würden so eine Sysiphosarbeit beim besten Willen nicht aufbringen und sind gespannt, wie lange sie es noch durchhält. Jedesmal wenn sie uns mit ihrem Gartenschäufelchen begegnet ist sie dem Aufgeben wieder etwas näher gekommen und wir loben sie, so gut wir nur können. Wir erwägen, Führungen durch den Kiez zu ihrem Gärtchen zu organisieren, man könnte etwa Touristenbusrouten umleiten, es gäbe so viel schöne bunte Fotographien in japanischen Poesiealben her ! An die Mitbewohnerin sollte eine Verdienstmünze vergeben werden oder das Fernsehen könnte doch mal..., oder wenigstens das Bezirksamt !

Wenigstens wir wollen Frau Tzschaksch und ihrem kleinen Garten an dieser Stelle ein Denkmal setzen, wir wollen   unseren Dank und unsere Anerkennung aussprechen für ihre Initiative, die unser Leben ein klein wenig verschönert hat. Denn eines schönen Tages wird dieses Kleinod des Kiezlebens vom Hundekot der Zeit wieder bedeckt sein und im Vergessen der Geschichte versinken. Amen.

 

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WETTERLEUCHTEN

 

 

 

 

 

 

Die wissenschaftliche Chaostheorie besagt, verkürzt ausgedrückt, daß es dem Menschen kaum möglich ist, Vorgänge vorherzusagen und noch weniger, sie zu beherrschen. Diesen Grundgedanken, und das versteht sofort ein jeder, leiteten die Wissenschaftler aus der Wetterbeobachtung und dem Versuch ab, für die komplizierten vielfältigen Phänomene der Wetterentwicklung mathematische Formeln zu finden, mit Hilfe derer die Komplexität der Wetterphänomene berechenbar, also auch vorausberechenbar sein würde.

 

Wissenschaftler der Chaostheorie haben den Nachweis erbracht, daß wir nach all den vielen Jahren des großen  Wissenschaftsenthusiasmus unseres Jahrtausends zwar stolz auf dem Mond eine Flagge gehißt haben, sich unser Wissen um die Vorgänge in der physischen Welt jedoch immer noch auf ein fast lächerliches Minimum beschränken. Erdbebenforschung, die Erforschung von Meereswellen, Zukunftsforschung und die Bemühungen der Ökologie finden alle sozusagen im Kinderzimmer statt.

 

Es beruhigt uns hier beim Weltspielspiegel natürlich ungemein, daß selbst hochkarätige Nobelpreisträger angesichts der großen Fragen

der Menschheit lächelnd mit den

 

Schultern zucken. Es ist ja so, daß unsere Hordenchefs immer nur dann genau wissen, wie sich eine komplexe Sache entwickeln wird, wenn sie gerade Krieg führen. Im Krieg gilt die Chaostheorie nicht ! Da wird von gewissen Vertretern der menschlichen Spezies plötzlich ganz genau gewußt, warum welches Städtchen bombardiert werden muß, und natürlich auch gewußt, daß es überhaupt bombardiert werden muß !

 

Dieser kleine, aber entscheidende Widerspruch zwischen Wissenschaft und Militär läßt sich vielleicht verkürzt so darstellen :  die Menschheit ist, immer wenn sie sorgfältig nachdenkt, durchaus zu erkennen in der Lage, daß sie in keinster Weise Herr derselben ist. Erst wenn wir uns auf unsere Herkunft aus den Höhlen erinnern, haben wir wieder die Keulen in der Hand und dreschen los, weil das ja so fürchterlich nötig ist und uns auch immer einer sagt, daß er weiß, daß es sein muß. Und dann macht es ja auch so ein bißchen Spaß, nicht wahr ? Bumm bumm.

Die alte Sehnsucht der Menschen nach einer gerechten Welt hat da eine ganz simple Antwort parat : alle Bösewichter einfach fortbomben. Leider wird an diese Lösung, die genau besehen gar keine ist, weil sie in dieser Simplizität nicht durchführbar ist wohl aufgrund der Macht der Sehnsucht allzu schnell geglaubt. Die zuckenden

 

Schultern sehen wir dann wieder, nachdem es viele viele Tote gegeben hat und die Sache mit dem Fortschaffen der Bösewichter auch nicht so recht geklappt hat und schon gar nicht die Errettung der geplagten Unschuldigen.

 

Gerade im Fall des Holokausts muß man leider davon ausgehen, daß die Existenz der Vernichtungslager den aliierten Regierungen früh bekannt war und sie sich eigentlich schon fragen lassen müssen, warum man, z.B. die Bahnlinien in diese Lager nicht bombardierte, dafür aber jahrelang und mit goßer Sorgfalt viele Städte. Das eigentliche Problem ist natürlich, daß sich die Militärs und die Regierungen im richtigen Moment solche Fragen nicht stellen lassen und daß es, schon lange vor der kriegerischen Auseinandersetzung soweit gekommen ist, daß einer mit der Keule in der Hand, ( und nicht etwa ein Denker ) der Hordenchef geworden ist, der selbst eben nur die Sprache der Keule versteht. Ein Problem der Aufgabenteilung in der menschlichen Gesellschaft, je nach der individuellen Neigung, das sich kaum lösen läßt. Selbst Aristoteles hat sich daran schon probiert mit seiner Forderung, daß man eigentlich die Philosophen dazu zwingen müßte, Staatsmänner zu werden  ( zwingen, weil es in der Natur ihrer Sache liegt, daß sie an weltlicher Macht kein Interesse haben. Und damit ist es ja schon

 

gesagt : es geht nicht ! ).

 

Und so, wie die Chaostheorie erkannt hat, daß komplexe Vorgänge nicht vorhersehbar sind müssen wir hier beim Weltspielspiegel jetzt erkennen, daß uns dieser Artikel wieder in Bereiche entführt hat, an die wir mit keinem Gedanken dachten, als wir ihn begannen. Wir hatten heut früh im Radio nur etwas von der Chaostheorie gehört und der Gedanke an das Chaos hatte sich in uns festgefressen. Eigentlich wollten wir davon schreiben, wie sehr ja gerade das Wetter uns Menschen beeinflußt. Und wenn man nun das Wetter schon nicht voraussagen kann... In diese Richtung wollten wir gehen und es ist wieder eine ganz andere geworden. Ebenso mag es mancher großen Idee und Initiative gehen : dahin wo sie geriet, wollte sie gar nicht, nur leider war das nicht vorauszusehen. Klar, zunächst hörte sich alles sehr klug anund man plante und machte sich auf und ging überzeugt und durchdacht zu Werke. Bis man dann schulterzuckend eingestehen mußte, daß unter den “Gegebenheiten der Realität“ dann alles doch anders verlief, als man gedacht hätte. Oder war es wegen des Wetters?

 

Wohin treibt uns wohl dieser Tag noch ? Denken wir nicht allzu lange darüber nach ! Da draußen, vor dem geöffneten Fenster ist die Antwort.

 

 

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 MILDE BLUMEN DER EINSAMEN TÄLER

Spanien verhökert seine Küsten, wie ein habgieriger Erbe das Familiensilber. Was mag man für eine mit kleinen Eigenheimen zugekleisterte Bucht bekommen ? 10 Milliarden ? Da baut die Baufirma, da produziert die Möbelindustrie und die Supermärkte in den kleinen Einkaufszeilen werden vollgestopft mit Salatköpfen aus der nahen Lebensmittelproduktion. Und auf den noch freien Hügeln sieht man bereits die neue Infrastruktur vorgezeichnet : das Hügelgrün zerfurcht, wo die neuen Straßen hinkommen. Meisenweg, Finkenweg, Drosselsteig.  Narürlich auf spanisch, damit der paneuropäische Häuslesbesitzer nicht ganz vergißt, wo er eigentlich ist.

 

Hinten im Land erheben sich die Täler gegen die Sierra. Die Sierra hat großes Glück. Ihr fehlt etwas : das Meer, auf das alle in Europa so wild zu sein scheinen, daß sie übersehen, wie häßlich die Umgebung ihrer Häuser ist. Und so fährt man durch die Täler der Sierra still dahin, windet sich um Abgründe, steigt steil oder fällt rasch. Sehr mächtig sind sie nicht, die Ausläufer der Sierra und so sind die Täler niemals sehr weit. Eher überraschend

 

 

fällt der Blick nach einer Kurve um einen Bergrücken in ein neues Tal.

 

Und jedes dieser Täler ist angefüllt von Blumen, Büschen, Sträuchern und Kakteen. Die Täler scheinen sich in ihrer geologischen Bodenformation zu unterscheiden. Oder ist es nur der unterschiedliche Einfallswinkel der Sonne oder die unterschiedlichen Regenmengen ? Auf alle Fälle führen die Unterschiede dazu, daß jedes Tal seinen ganz eigenen Pflanzenbewuchs aufweißt. Man fährt durch verschiedene Paletten von verschiedenen Malern. Und jedes dieser Täler besitzt eine Blume, einen Busch, ein Gewächs, das die anderen Täler nicht kennen.

 

Rotbrauner Boden und darauf die knallgrünen Zitronenbäume. Graubrauner Schiefer, an dem gelbe und rote Sträucher hängen. Aus Steinmauern drängen mattgrüne Sträucher, wie Gewürze. Man schaut und schweigt. Man fühlt sich schuldig, daß man so viel Schönheit erst jetzt zu Gesicht bekommt. Wo war man all die Jahre gewesen ? Wo verbringt man seine farblose Zeit ? Die stille Schönheit Blumen in den

 

Tälern ist unaufdringlich und schweigsam.

 

Sie blühen für den Wind und gegen die brennende Sonne, die ihr Leben in der Sierra schnell auslöscht.Nur die Wüste wird bleiben, die sie bedecken. Man ahnt, wie unschätzbar ihr Wert in diesem wasserlosen Land wird. Man ist dankbar und leicht dumpf in der Vorahnung der Zertsörung von so viel Schönheit durch einen unbarmherzigen Frühsommer.

 

Vorn am Meer tobt das Sonnenleben der Vielen. Ihre Sonnenbrillenkultur löscht ganze Küstenzüge aus, die Betoncafés stehen dumm und eng. Freizeitindustrielle Sonneschirmchenwälder kleben gierig möglichst nah am Wasser, daß es klumpt, als seien sie die Hügel heruntergefallen und zu einer gigantischen, kurzbehosten Abfallhalde an der Küste zusammengeschoben worden. Das Meer rauscht fast schon blöde dagegen an, stolz, daß so viele nur seinetwegen gekommen sind. Man wendet sich ab und sieht die Häuslesbauer die Hügelzüge in eine küstenlange Vorstadtwüste verwandeln. Man sehnt sich zurück in die dünnbesiedelten Täler, zu den kleinen, weißen

 

 

Städtchen an schwierigen Hängen, zu den Zitronenhainen und den schweigsamen Blumen, die so kurz nur blühen dürfen.

 

Und doch ist es gut, daß sie von dem bißchen Regen leben, der hier fällt. Denn alles Trinkwasser, das an diesen Küsten bereitet werden kann, wird in die Eigenheime gepumpt. Die Wassermenge nur eines ihrer Swimming Pools könnte ein ganzes Tal begrünen. Doch die Blumen lebten nicht mehr lange, hingen sie davon ab.

 

Und so gehen meine Augen in den hellen Himmel und suchen nach Erinnerungen an das, was sie dort sahen, die milden Farben, die still singende Buntheit über den knöchernen Böden, das Sirren der schweigenden Sträucher an harten Steinmauern im Wind . Doch die Stadt ist laut und macht schnell vergessen. Ein Vogel singt über den Dächern und begrüßt einen lärmenden Abend. Meine Augen suchen diesen Vogel ohne daß ich es weiß, und erst die leichte Traurigkeit ihn nicht finden zu können sagt mir, daß sie es tun. Ich lächle, ich atme, und wüßt ich ein Gedicht, so sagte ich es jetzt vor, für die milden Blumen der einsamen Täler der spanischen Sierra.

 

 

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PERRO  ABANDONADO

 

 

 

 

 

 

 

Vorne am Strand sind die Kühe. Kühe muß man anbellen. Dabei muß man allerdings sehr vorsichtig sein, denn sie  haben gerade ganz ganz junge Kälber dabei und verstehen keinen Spaß. Dann sind diese langweiligen Brocken plötzlich ziemlich flink, obwohl sie sich sonst kaum bewegen.

 

Man kann aber auch den Strand hinunterrennen, zusammen mit den Freunden und nach Pferden und Eseln schaun. Die muß man dann natürlich auch anbellen. Manchmal rennen sie dann weg. Manchmal. Viele lassen sich aber einfach nicht beeindrucken, schlagen nur einmal mit den Hufen nach einem und man trollt sich besser. Dann tollt man halt mir den Freunden im Sand umher, daß er spritzt. Oder man beschnüffelt, was da die Möwen liegen lassen haben, die man eben verjagt hat. Man schließt sich für einige Meter Strandspaziergängern an und beschnüffelt sie. Manche haben dann Angst, manche bücken sich herunter und sprechen mit einem. Doch die meisten sind zuletzt langweilig oder sie schicken einen weg.

 

Auf dem Grundstück tummelten sich mehrere Hunde. Man frühstückt auf der Terrasse vor der Ferienwohnung und gibt ihnen ab und zu einen Happen. Hunde, die Besucher und die gelegentlichen Happen gewöhnt sind und verschwinden, wenn das Frühstück beendet ist.

Wir gingen am Strand entlang und erschraken, als einige hundert Meter von der Ferienwohnung entfernt plötzlich einer dieser Frühstücksgäste rennend von hinten neben uns auftauchte. Er schnappte spielerisch nach meinem Unterarm und ich ließ mich auf das Spiel ein : rennen, Kurve schlagen und ihn ins Leere laufen lassen, Wettrennen, das er immer mit großer Leichtigkeit gewann, Arm schnappen lassen, auf die Vorderläufe ducken und plötzlich losrasen, den Arm ausstrecken beim Rennen und wenn er hochspringt wegziehen. Lachen. Weiterrennen und sich am Arm erwischen lassen. Er biß nicht zu, er hielt leicht fest und ließ schnell wieder los. Ein schönes Tier. Ich mag keine Hunde. Sie sind mir zu laut, zu zudringlich, zu nervös. Dieser nicht. Ich setzte mich in den Sand. Er setzte sich hinter mich und lehnte sich nur ganz leicht gegen meinen Rücken. Ich ließ ihn an meiner Hand schnüffeln und berührte ihn. Zur Seite drehen, den Bauch kraulen lassen. Aufhören. Unsere Blicke. Wir verstanden uns auf den ersten Blick. Ich sage das so und meine es wirklich ernst. Von ihm kein Laut. Ich war es, der auf ihn einredete. Er hörte zu, blickte dabei in die Brandung und zu mir her, wenn ich aufhörte zu reden. Seine Augen. Sprich weiter.

 

Abends, als wir auf der Terrasse saßen und uns unterhielten, lag er einige Schritte entfernt bei uns und schlief. Als wir in die Wohnung gingen um zu schlafen, legte er sich vor unsere Tür. Er bettelte nicht, daß wir ihn hereinlassen sollten. Kein Winseln, kein Bellen, kein Scharren. Er legte sich still dort auf die Schwelle.

 

In der Nacht kam ein Sturm.

 

 

Regen schlug fast senkrecht gegen das Fenster, die Wut des Windes in den Bäumen. Wir standen noch einmal auf, um zu sehen, ob er noch auf der Schwelle läge. Es war mitten in der Nacht gewesen, als wir uns hingelegt hatten und wir wußten nicht, ob das Haupthaus des Grundstücks noch offen war, damit er hinein könnte.

Er lag nicht mehr auf der Schwelle, doch er kam sofort um die Hausecke, als wir das Fenster öffneten, um nach ihm zu sehen. Er hatte in einer Niesche Schutz gesucht, wo eine Gartenmauer auf die Hausmauer zuläuft und sie schließlich erreicht. Wir nahmen ihn hinein. Er war naß. Wir trockneten ihn ab und gaben ihm zu essen. Kein Laut, nur sein Blick. Dankbarkeit. Erleichterung. Stummes Schwanzwedeln.

 

Er schlief auf unserem Sofa und am Morgen erzählten ich es der Besitzerin der Ferienwohungen. Sie sagte etwas über den Hund doch ich verstand ihren starken andalusischen Akzent nicht. Ihren Mann, etwas später, verstanden wir. Dieser Hund gehörte gar nicht zu dem Haus. Er sei ein perro abandonado, ein herrenloser Hund, von denen es 4 oder 5 im Dorf gebe. Fast unfaßbar. Er sah gut ernährt aus, kerngesund, ja : gepflegt. Er trug ein Halsband mit einem Schild ohne Eingravur. Er war zurückhaltend und aufmerksam, “gut erzogen“ nannten wir es, weil einem nichts besseres einfällt.

 

Wir nannten ihn Hugo Hund, aufgrund seiner traurigen, warmen und aufmerksamen Augen und seiner aufrechten Haltung. Er kam mir manchmal vor, wie ein tragikomischer Stummfilmstar. Sein Schweigen. Er bellte so selten. Er machte sich mit lautlosen Gesten verständlich. Es erschien uns, als sei er noch nicht lange abandonado.

 

Wenn wir am Vormittag mit dem Wagen wegfuhren, rannte er aus Leibeskräften hinter uns her, bis er aufgeben mußte. Ich sah ihn im Rückspiegel stehen : erschöpft keuchend, mutlos und doch aufrecht. Es brach uns das Herz und doch war er ja nur ein fremder Hund. Perro abandonado.

 

Wenn wir nach Einbruch der Dunkelheit zurückkamen begrüßte er uns mit stummer Freude, er bellte nicht, er ließ allenfalls so etwas wie ein leichtes Fiepen hören, wie man es vielleicht von jungen Welpen vermuten würde. In einer Nacht, als ich im Bett wegen der schlechten Matraze keinen Schlaf fand und in die Küche ging, machte er mir sofort auf dem Sofa Platz und legte sich davor. Ich schlief, meine Hand auf seinem Rücken, die er machmal vorsichtig leckte. Wenn er sich mit einem grunzenden Geräusch zusammenrollte, antwortete ich ihm mit einem ähnlichen Geräusch. Tat ich einen tiefen Atemzug in der Nacht, antwortete er ebenso mit einem tiefen Atmenzug.

 

Am Morgen machte ich Kaffee und brachte Karin ein Glas davon ans Bett zum Aufwachen. Er kam vorsichtig mit, doch betrat das Schlafzimmer erst nach Aufforderung. Er ging ans

 

Bett und schnupperte vorsichtig an Karins Wimpern. Er berührte sie nicht. Er blieb lautlos, schaute zu mir hin und wieder zu ihr und wedelte mit dem Schwanz. So ein Hund war das.

 

Die ersten Tage, die er bei uns verbrachte schlief er fast durchgehend auf dem Sofa. Er muß sehr müde gewesen sein und muß es sehr genossen haben, einmal in trockener Umgebung zu schlafen, zumal es in unseren Tagen am Meer viel regnete. Später schlief er weniger, ging auf einen seiner Erkundungsgänge und kam erst nach einer oder zwei Stunden wieder zurück.

 

Fuhren wir am Vormittag wieder weg, folgte er uns wieder, doch nicht mehr ganz so verzweifelt. Er blieb im Rückspiegel sichtbar früher stehen und blickte uns mit erhobenem Kopf nach.

 

Wir machten lange Strandspaziergänge und er kam mit. Er streifte weit umher und war oft nicht in Sichtweite. Einmal kamen Leute vom Dorf mit ihren kraftstrotzenden Hunden, in ihren Augen lag die Sicherheit des Hundes mit einem Herren, dieser unerbittliche, wichtigtuerische Blick, den ich an Hunden oft so hasse. Hugo Hund hatte sichtlich große Angst vor diesen Hunden, doch er rannte nicht weg, Er wollte bei uns sein. Er lief plörtlich zwischen uns um unseren Schutz zu haben. Die Dorfhunde setzten ihm trotzdem zu. Er tat etwas sehr merkwürdiges : er stellte sich mit vor Angst eingekniffenem Schwanz vor den größten der Dorfhunde, der sich ihm bis auf eine Handbreit näherte und bellte ihm ins Gesicht. Ein fast verzweifeltes, bedeutsames Bellen. Ihr dürft mir nichts mehr tun, ich habe jetzt auch meine Menschen !

 

Ich schickte die Dorfhunde mit Lauten und Bewegungen fort und sie schlossen sich ihren Leuten wieder an, die vorbeigegangen waren. Hugo schaute mich an, nieste, und blieb noch eine Weile zwischen uns.

 

Wir wußten, daß wir ihn nicht mitnehmen konnten. Unser Leben, zumal mitten in der Großstadt, hat keine Zeit für einen Hund. Wir erwogen es aus Rührung, doch es war aussichtslos. Wir sind beide berufstätig und er wäre viel zu oft allein. In unserem Stadtteil gibt es nur neurotisch agressive Hunde und viel zu viele davon. Wo er lebt, ist er frei zu tun, was er will. Er ist den ganzen Tag draußen. Die abandonados werden anscheinend vom ganzen Dorf ab und zu gefüttert oder sie leben von den Abfällen. Sehr miserabel sahen sie alle nicht aus. Er sah so gut aus, daß wir es erst gar nicht hatten glauben wollen, daß er ein abandonado sei. Er hat es also nicht ganz so schlecht dort. Am Strand in Bolonia hat er seine Kumpels. Die anderen abandonados. Manchmal sah man sie in Konferenz am Strand umherziehen und ihre Hierarchien untereinander abstecken. Er war dann auch meist dabei. Einmal sah ich den abandonados bei ihrem Spiel am Strand zu, an die Gartenmauer gelehnt. Er war nicht dabei, er schlief in unserer Wohnung. Dann kam er, setzte sich zu mir

 

auf die Gartenmauer und sah mit mir den anderen abandonados zu. Manchmal sah er zu mir her und ich weiß nicht, was dabei in ihm vorging. Zuletzt sprang er von der Mauer und verschwand. Ich blieb noch stehen. Er blieb verschwunden, doch tauchte auch nicht unten am Strand unter der Gruppe der abandonados auf. Ich weiß nicht, was er damals getan hat. Ob er sich unentschlossen der Gruppe etwas näherte und doch nicht ganz hinging. Ob er mich und die Gruppe beobachtete. Oder ob er einfach allein seiner Wege ging.

 

Am letzten Tag, kurz vor unserer Abreise kam er von einem seiner Ausflüge zurück und brachte einen seiner Kumpels mit. Einen kleinen, zierlichen, schwarzen perro abandonado. Wir hatten die beiden manchmal zusammen am Strand gesehen. Sein Freund war, wie er, ein sehr zurückhaltendes, stilles Tier. Ein hübsches Tier, und wir mochten ihn auch. Hugo Hund ließ zu, daß der andere mit uns Kontakt aufnahm und es hatte den Anschein, daß er ihm aber immer bedeutete, daß wir seine Menschen waren. Es war ein rührender Vorgang, er zeigte seinem besten Kumpel seine Freunde. Wir fragen uns heute, ob er das getan hat, weil er an unserem Packen gespürt hatte, daß wir gehen würden.

 

Ich brachte die Sachen zum Wagen und er lief hinter mir her. Ich schloß hinter mir das Gartentor, da ich nicht wollte, daß er bei unserer Abfahrt dabei wäre. Er sah mir kurz durch die Stäbe des Gartentors zu, wie ich den Wagen belud und lief dann zurück in den Garten und ums Haus herum, um mir auf dem Parkplatz davor zu begegnen. Er erschien aber erst auf dem Parkplatz, nachdem ich wieder durchs Gartentor zum Haus zurückgegangen war. Er sah, neben dem Wagen stehend, zu mir her. Ich rief ihn. Doch er kam nicht. Er blieb in seiner aufrechten Haltung stehen, Ohren und Schwanz bewegten sich im Wind, so wie er immer im Rückspiegel dagestanden hatte, wenn wir auf einen unserer Ausflüge weggefahren waren. Ich ging zurück in die Wohnung, um die restlichen Sachen zu holen und dachte, ich würde ihn ja beim Wagen wiedersehn.

 

Doch als wir herauskamen, war er fort. Wir riefen nach ihm und sahen uns um. Doch er blieb fort. Wir fuhren sehr schweigend los. Ich blickte laufend in den Rückspiegel, doch er erschien nicht. Wir fragten uns, ob er wohl mit seinem besten Freund zum Strand gelaufen wäre, zu den anderen abandonados. Ob er genau begriffen hatte, daß wir nicht zurückkehren würden. Ob er den Abschied leichter machen wollte.

 

Er fehlt uns. In manchen Nächten träume ich von ihm und erwache traurig. Wir denken an ihn und fragen uns oft, wo er wohl schläft, ob es kühl ist dort unten an der andalusischen Küste, ob es regnet. Vielleicht haben wir einen sehr großen Fehler gemacht. Doch wir wissen es nie so genau.

 

 

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FINGERSPITZENGEFÜHL

 

 

 

 

 

 

 

Ein Silberpapierchen, so eines, wie man es oben aus einer Zigarettenpackung zieht, war mir in die Einkaufstüte gefallen und als ich vor dem Abfallbehälter an der Straßenlaterne mit den Fingern nach ihm fühlte, machte ich die verblüffende Entdeckung, daß ich es nicht erfühlen konnte, da ich momentan ein Pflaster über der Fingerkuppe trage, denn ich habe mich vor einigen Tagen in diese Fingerkuppe geschnitten.

 

Was aber war denn daran so verblüffend ? Nun, ich hatte die faszinierende Feinheit des Gespürs in so einer Fingerkuppe einfach vorausgesetzt, die normalerweise ja tatsächlich in der Lage ist, etwas so Feines und Leichtes wie ein Zigarettenpapierchen mitten unter zusammengewürfelten Einkäufen in einer Tüte zu erfühlen. Da sie mir aufgrund des Pflasters nun plötzlich nicht zur Verfügung stand, fiel sie mir wieder auf und ich fand diese Fähigkeit in dem Moment : sehr verblüffend.

 

Da haue ich mit Wucht meine Finger auf die Tischplatte und ein Druck kracht in die Fingerspitzen, der die leichte Berührung mit einem Papierblättchen vielleicht um ein millionenfach Vielfaches übersteigt. Gottseidank kommt der Impuls dieser Berührung in meinem Kopf nicht mit einem

 

millionenfach Vielfachen der Berührung des Papierblättchens an ! Der Schmerz würde mich sofort niederstrecken !

 

Da stoße ich mir mein Knie an der Kante eines Küchenschranks und dieser Schmerz streckt mich beinahe nieder. Und trotzdem war er nicht so alarmierend wie der kleine Schnitt in die Fingerkuppe, der viel weniger weh tat. Schmerz ist etwas Verblüffendes : der klitzekleine Schmerz einer Schnittwunde kann uns alles vergessen lassen und alle Alarmglocken in unserem Kopf aufschrillen lassen, während uns ein viel größerer Schmerz, z.B. wenn wir uns den Arm bös anstoßen, kaum aus der Ruhe bringt. Der Grund ist offenbar : ein Schnitt muß sofort versorgt werden, man könnte sich eine böse Entzündung an ihm holen, während der gestoßene Arm nur lästig ist und sich der Mißstand schon von allein erledigen wird.

 

So sind wir schon alles andere als objektiv mit unseren eigenen Schmerzen. Und zwischen den Menschen gibt es dann ja noch große Unterschiede. Jeder Einzelne reagiert anders auf einen Schmerz. Ich habe Menschen erlebt, die nach dem Tod eines Partners, den sie aufrichtig liebten, gefaßt und aufrecht blieben, so sehr, daß man fast denken mußte, sie spürten keinen Schmerz. Und

 

wir alle kennen den Wehleidigen, der aus einem kleinen Schmerzchen eine Tragödie macht, als stehe er unter dem Einfluß schwerer Folter.

 

Oft stehen wir ratlos und überrascht vor den Schmerzen anderer und können nicht nachvollziehen, was sie da erleben, durch was sie da gerade gehen. Stehen vor jemand, den der Schmerz schüttelt, weil er gerade verlassen wurde oder eine schlimme Nachricht erhalten hat. Oder stehen jemandem gegenüber, der in unseren Augen das Gefühl einer zarten Berührung findet, wie die leichte Berührung einer Fingerkuppe mit einem atemzugleichten  Zigarettenblättchen in der Einkaufstüte. Liebe und Tod. Flüchtigste Berührung und bleierner Schmerz. Unser Empfinden für Berührungen aller Art ist eine riesengroße Fähigkeit !

 

Wir erfahren das jeden Tag millionenmal. Und doch werden wenige unserer Fähigkeiten so schlecht verstanden vom einen zum anderen. Und mit wenigem wird beim Umgang der Menschen untereinander oft so unerbittlich und hart verfahren, wie mit unserem Berührungsempfinden. Das gilt vorallem für den Fall der feineren Berührungen. Im

 

Bereich der leichteren, kleinen Rührungen und Gefühle des Berührens legen wir oft erstaunlich wenig Fingerspitzengefühl an den Tag. Nun, wie sollten wir, wir leben in einer harten, unerbittlichen Welt und können es uns nicht leisten, in jedem Fall lange darüber nachzudenken, was und wen wir in welchem Maße eben berühren, sonst wären wir längst ausgestorben.

 

Wir würden gelähmt bis zur Lebensunfähigkeit würden wir versuchen, uns über jedes Gefühl der Berührung oder über jeden Schmerz klar zu werden, den wir spüren oder bei anderen auslösen. Also tun wir es eben nicht. Es ist verständlich, daß wir es dann natürlich oft auch gerade dort nicht tun, wo es doch ziemlich angebracht wäre. Ohne allzuvie Gedanken zu verschwenden schlagen wir uns durchs Gestrüpp unserer Welt, die eine Welt der Berührungen ist. Wir drängeln uns durch den Vorweihnachtseinkauf in einem Kaufhaus, stoßen uns den Arm an einem Pfosten, und das Zigartettenpapierchen fällt uns in die Einkaufstüte. Wir gehen über die Straße und achten auf den Verkehr und gleichzeitig erfühlen wir mit den Fingerspitzen das Papierchen.

 

Das tun wir.

 

 

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HINGEWORFEN

 

 

 

 

 

 

 

Vielleicht sollte ich nichts mehr sagen. Kein Wort. Keine Träne. Du dort am Himmel, über den Dächern. Es bleibt nichts, nichts als die Leere, die den Kanal hinunterweht, deiner verlorenen Seele nach. Ich kann es dir nicht beschreiben, wie furchtbar es sein kann, weiterleben zu müssen. Für was oder wen, wenn nicht für dich. Sprechen zu müssen, ohne daß du es noch hörst, singen zu wollen, an die gefühllosen Wände, ohne das tiefe Leuchten in deinen Augen je wiederzusehen.

 

Wahrscheinlich wäre es dir egal gewesen hättest du gewußt, daß ich dich brauchte. Du hast es sicherlich nie geahnt, und es war gewiß so gut wie unmöglich, das zu wissen. Ich habe es auch kaum gewußt, höchstens geahnt. Wenn ich dir schrieb, wenn ich an dich dachte. Das tat ich nicht sehr oft. Was tun wir denn oft von den Dingen, die unser Leben wertvoll machen ? Und warum hättest du dich ausgerechnet darum kümmern sollen, was es mir bedeutet, dein Leben ?

 

Hörst du mich ? Schaut deine Seele zurück auf dieses kleine, kurze, windgeschüttelte Leben ? Wo es eine seltsame Verzweiflung gibt, die den Schlaf abbricht, den Frieden der Träume kündigt in ein schreckliches Erwachen, das dein unauslöschliches Fehlen hinnehmen muß ? Oh ich weiß, du kanntest das Fehlen, die nie

 

 

zurücknehmbare Wahrheit, daß ein Mensch aus deinem Leben getreten war, Finsternis und heulende Wände zur Nacht, nie mehr in diese Augen sehen, diese Stimme hören, es war dir sehr vertraut. Du schenkst es mir heute, weißt du, und es kümmert dich nicht mehr.

 

Manchmal nehme ich dich in die Arme und frag dich, ob der Sturz schrecklich war, ob die Schmerzen noch bei dir ankamen, ob die Nacht deine Freundin war oder aber eine brüllende, gräßliche Todesgöttin, die Nacht, die dich aufnahm und zerriß. Du antwortest nie, wie du oft keine Antwort gabst, du siehst mich abweisend an. Und doch ist da eine Wärme in deinem Blick, die ich kaum in Augen sah. Und eine Tiefe, die mich immer erreichte, unser Geheimnis, unser Schweigen, wir, die Brüder und dort draußen die Welt.

 

Es war einerlei, was wir sagten, wenn wir es zueinander sagten waren es Laute der Vertrautheit, des Respekts, vorsichtige Zärtlichkeiten. Wer sollte das ahnen, nachdem die Schläge Schlagzeilen machten und nach Erklärungen schrien. Wer weiß schon von meinem Einverständnis in diese Schläge ? Und wer würde dieses Einverständnis begreifen können, wenn nicht du. Und du wirst nie mehr etwas begreifen.

 

 

 

Hier trage ich dich fort in diese fremde, hohle Zeit, meine Fragen suchen dich bisweilen arglos und dann sind deine Augen nirgendwo zu finden, deine Stimme ist verstummt hinter dem Lärm der Welt und ein bleiernes Alleinsein weht mich an, so kalt, dieses Weiter ohne dich, das ich dir nie werde beschreiben können. Meine Worte haben ihr halbes Gewicht verloren, seit du sie nie mehr lesen wirst. Noch leichter sind sie geworden, noch hilfloser, und sie verbleichen schnell in dieser Welt und verschwinden dann vielleicht in die deine. In diesen dünnen Wind, der deinen Namen noch trägt, doch schon wird er leiser und verklingt. Bald wird ihn niemand mehr hören können. Du konntest ihn hören, du hast mir von ihm erzählt. Wer erzählt mir heute noch von diesem Wind ?

 

Die Welt die dich verloren hat wird dich nicht vermissen. Sie tobt weiter, so, wie du sie kennst, reiht Tag um Tag aneinander wie sie es tat, als du ihr noch dabei zusahst. Sie wird nicht schöner, sie wird nicht schlimmer, sie ist eben die Welt. Sie ist leer von dir und weiß es nicht. Sie nimmt mich fort von dir, schafft unaufhaltsam Zeit zwischen uns und ich treibe in ihr immer weiter von deiner Seele fort. Sie wird uns immer weiter trennen, kühl, gleichgültig, vorlaut. Ich habe ihr nur meine Worte

 

 

entgegenzuhalten, meine Lieder. Und die haben dich verloren.

 

Ich spreche deinen Namen in die helle Luft der weiten Tage und klatsch dann zweimal in die Hände, wie es die Buddhisten tun beim Gebet. Hörst du es ? Es ist ein freundlicher kleiner Lärm für dich, ein schüchternes Geschenk. Du wärst verlegen und würdest lachen. Du würdest denken, ich sei verrückt geworden. Du würdest sagen : wer hätte das gedacht ?! Doch weißt du, ich muß weiter. Muß diese Stille füllen und diese Welt bestehn. Ich will sie ja bis zu Ende gehen, auch wenn du es nicht verstehst. Und du hast ja recht, es ist bisweilen ekelhaft und würdelos. Grausam. Traurig. Und schenkt einem kein Verständnis, kein Erbarmen.

 

Sprechen zu müssen, ohne daß du es noch hörst, singen zu wollen, an die gefühllosen Wände, ohne das tiefe Leuchten in deinen Augen je wiederzusehen. Für was oder wen, wenn nicht für dich. Ich kann es dir nicht beschreiben, wie furchtbar es sein kann, weiterleben zu müssen. Es bleibt nichts, nichts als die Leere, die den Kanal hinunterweht, deiner verlorenen Seele nach. Du dort am Himmel, über den Dächern. Keine Träne. Kein Wort.

 

Vielleicht sollte ich nichts mehr sagen.

 

 

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