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Rubrik: Der Essay |
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Der folgende Ausschnitt soll einen
theoretischen Aspekt unter dem der Weltspielspiegel erscheint erläutern. Er
stammt aus der Geschichte `Paul' und ist dort mit dem Titel `Herbstblätter'
überschrieben. Bergmannstraße Berlin Montag, 10.11.86 Da steht wie ein bestelltes Aufgebot die
Schreibmaschine, mit ihrem leeren Blatt im Maul und wartet stumm, denn die
Hochzeit findet nicht statt, die Gedanken wollen sich nicht vermählen,
bleiben bockig, stehen schmollend in den Ecken umher und sehen nicht
zueinander hin. Das Altern ist ja der Auftrag Spiele zu
erfinden, die den innersten, noch ziellosen Antrieb abzubauen verstehen,
diesen Drang, der wir sind, noch bevor wir dem anderen begegnen, noch bevor
wir uns als gezogen erfahren, getrieben in Richtungen, die wir selbst
vielleicht nicht gewählt hätten, nur weil da anderes ist, weil da andere
sind, auf die wir wirken, wir wissen es und wollen ja nicht die falsche
Wirkung erzeugen, wollen keine Irrtümer, Mißverständnisse, wollen nicht
verlacht werden, wollen etwas gelten dort beim anderen, wollen unsere Spur
dort hinterlassen. Und doch kann man es ja nicht allem und jedem recht machen
und wir verheddern uns aussichtslos, geraten in den Strudel unserer
Vorsichtigkeit, unserer Lügen und Schwindeleien aus Not, in die Abgründe
unserer Abhängigkeiten von der Gunst anderer, die uns zu Hochseilakten
zwingt. Doch vor all dem war das Spiel. Das
intrigenfreie, aus sich selbst geborene, zum Tun gebrachte Angetriebensein.
Da war eine Neugier auf die Welt, ein Drang, sich seiner selbst und seiner
Möglichkeiten zu bedienen, sich zu bewegen, Hände, Mund, Denken, Vorstellungswelt.
Da waren Tagträume, die keine unerfüllten Wünsche zum Inhalt hatten, sondern
die nur spielten, die Möglichkeiten durchliefen weil es diese gibt, weil es
lustvoll ist sie durchzudenken, den Bereich abzustecken, den die abstrakte
Vorstellung noch erreichen kann und der so weit ist, daß wir längst nicht
mehr erwarten, ihn noch in der Wirklichkeit erleben zu können. An ihrer eigenen Einfallslosigkeit werden
uns die anderen schal, wir sitzen vor ihnen und sie langweilen uns im Grunde
nur noch mit ihren lächerlichen Anekdoten, über die wir hinausgreifen wollen,
damit unser Denken nicht verklebt wie bei einem Gang durch eine
Eigenheimvorstadt. Wir brauchen uns nur auf unsere Spiele zu berufen, schon
hebt eine leichte Faszination unsere Beine, schon lassen wir die trübsinnigen
anderen weit hinter uns und jagen mit der immer schneller werdenden Welt
davon, bleiben auf dem Laufenden und ertrinken nicht in der Gewordenheit, die
noch zu fressen bleibt und die so schwer verdaulich ist. Als Spiel bezeichnen wir hier nicht das
stellvertretende Ausprobieren einer Strategie, nicht die Etüde, nicht die
Kopie und nicht den reglementierten, verkodisierten Wettbewerb, der unblutig
den Besten ermitteln will. Wir verstehen darunter das zu einem Tun
werdende Sich-regen-Wollen des Geistes, welches als völlig unmotiviertes
Phänomen aus sich heraus vorliegt, zunächst keinem Zweck folgt, sondern das
erste ist was wir in einem Menschen vorfinden, zusammen mit der Urangst, die
in entgegengesetzter Richtung wirkt. Es ist das im Menschen, das ihn in die
Welt hinaustreibt ohne ihm aufzutragen, sie zu erobern, sondern nur, sie
auszukundschaften. Ein Ausdehnen, das nicht Macht werden will, sondern nur
Bewegung. |
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Die spielerische Bewegung ist lustvolle
Auflösung dieses Sich-regen-Wollens des Menschen. Sie hat eine körperliche
und eine geistige Komponente, doch tendiert zuletzt zum bloß Abstrakten. Sie
bleibt bis zuletzt immer auch körperlich, denn es ist der Körper mit seiner
sinnlichen Wahrnehmung, der der erste Schlüssel des Menschen zur Welt ist.
Ohne die Wahrnehmung verfügte der Geist nicht über die Spielsteine des
Abstrakten. Er hinge völlig leer, von der Verdammung zur absoluten
Unbeweglichkeit unendlich gequält, im Schwarz, im Geräuschlosen, in der Bewegungslosigkeit,
ohne Zeit und Raum zu kennen. Der Geist wäre dann nur Qual. Ein
festgehaltenes Sich-regen-Wollen. Ein physikalisches, metaphysisches
Potential, das keine Entladung erführe und unter diesem Zustand entsetzlich
litte, man braucht nur daran zu denken, wie furchtbar die Langeweile sein
kann und wie unendlich befreiend und lustvoll ein Spiel ist. Man will im Alter nicht mehr erklären, man
wird der Anekdoten müde, deren Strukturen man längst durchschaut, ebenso wie
man die Wiederholungen der eigenen Lebenskatastrophen begriffen hat, die
Kreise der eigenen Psychologie, die Determinanten des eigenen Verhaltens. Und
doch bleibt ein Bedürfnis, sich zu regen. Diese Regung ist nur im Spiel
möglich, sonst macht man sich als alternder Möchtegernabenteurer lächerlich. Taju, der junge König, erfand das Spiel der
Ornamente aus Geist, das Schreiben. Paul erfand Taju, erfand sich die Spiele
vom Idioten, vom Herrn Hölderlin, von der großen und der kleinen Zeit, von
den Ameisenkulturen. Maurice erfand sich das dunkle Singen, das
sternenschwarze Nichts, den rotbebenden Schrei seines Herzens, sein ewiges
Weiter. Hannah erfand sich ihre Begleiter, erfand sich Maurice, erfand sich
eine Bewegung mit ihm, ein Schreiten in die Welt. Ich habe sie alle erfunden. Die Spiele mit
ihnen, zwischen ihnen. Habe sie erfunden, um meine Biographie unter ihren
eigenen Bedingungen, ihren Verstrickungen gelingen zu lassen. Den tänzelnden,
gerade noch die Balance haltenden Paul, um mit ihm gerade noch die Balance zu
halten. Den in der Leichtigkeit verlorenen Idioten, um mit ihm in der
Leichtigkeit verloren sein zu können. Den mit dem Mut der Verzweiflung nach
dem Dunklen forschenden Maurice. Die mit hellen Idealen in die Welt
hinausschreitende Hannah. Den jungen König Taju aus Pauls Geschichte, der aus
der großen Zeit in die Geschichte spricht und der mit mir die Endgültigkeit
spielt. Alle sind sie Figuren eines Spiels, in dem ich Welt spiele. Dienstag, heller Himmel, Hinterhof Ein Spiel: Sich selbst zur Figur machen, sich hineinkomponieren
in die Welt, vor die Tür treten ins Tageslicht und denken: da stand er vor
der Tür; wohin sollte er sich wenden ? Die eigene Biographie ist ein noch
laufender Roman, geschrieben in kurzen Abrissen, Gedanken, kaum eine Zeile
lang, Blicke, kurz wie ein Wort und ebenso allein und heftig und ohne
Zusammenhang. Episoden die untergehn wie eine gerauchte Zigarette, vergessen. Morgens wacht man auf und der
Wahrnehmungsapparat wird neu gespeist, darin noch eine Linie einfädeln zu
müssen wird zu einer Aufgabe, die immer schwerer gelingt, wenn man sich nicht
nur auf die Notwendigkeiten verläßt wie auf Arbeit, Nahrung, Reinlichkeit.
Noch traumschwer hebt man zum ersten Mal den Kopf, blickt quasi aus der
großen Zeit der |
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Traumzusammenhänge in die kleine Zeit der
Tagesepisoden, wird wieder Momentmensch, dies tun, das tun, die langen
Gedanken und die durch die Zeit greifenden Empfindungen der Träume und des
ruhenden Liegens enden jäh an den kurzlebigen ersten Schritten in den
Tagesablauf. Die kleine Zeit perlt kristallklar und glashart in die Sinne und
damit ins Denken, die Geschwindigkeit ist geboren. Man wird forwärtsgerissen in die
Momentfabrik der kleinen Zeit und möchte doch träge und tief atmend noch
einen Moment oder zwei in der großen Zeit verharren, warten, welche Impulse
einem die eigene Neugier eingeben würde, mit denen man die kleine Zeit selbst
füllen würde, freudiger, als im marionettenhaften Zucken an den Fäden der
Notwendigkeit. Wer da herauswill, der fängt am besten ein Spiel an. Ein Spiel beginnt man am besten in den
Räumen aus Erinnerung, im langatmigem Zeitempfinden,
der Losgelöstheit aus den schnellen Momenten der kleinen Zeit. Aus einer
Befindlichkeit des Danebenstehens heraus. Da steht man zwischen den
Gegenständen, den schweigenden Zimmerwänden, zu denen der Mensch auf eine
Weise so gar nicht gehört, zu denen er mit seinem Menschsein in überhaupt
keinem Zusammenhang ist, die ihm fremd und unerreichbar sind. Die ihm in der großen Zeit unter den Fingern zerbröseln zu
Begriffen, die er endlos aufzählen kann. Himmel, Hinterhof, Wand, Lampe,
Zimmer. Ja und ? Man wartet still. Und plötzlich legt sich ein Lächeln auf
die Mundwinkel, eine Idee, ein Aufbruch. Ein Tun kündigt sich da an. Die
große Zeit von einer frechen Nadel durchstochen, dem Klick eines Moments.
Paul. Der plötzlich auf der Rauhfasertapete, auf die er momentelang gestarrt
hat, eine eingeschneite Kultur erkennt, die er ausgraben will. Wer spielt macht seine eigene kleine Zeit.
Er produziert eigene schnelle Momente, die ihn auf die Geschwindigkeit der
Welt beschleunigen können. ( Die Geschwindigkeit der
Welt ist die rasche Folge einzelner, zerrissener Eindrücke ohne wirklichen
Zusammenhang. Ihr einziger `Zusammenhang' besteht ja darin, daß sie von ein
und demselben Wahrnehmungsapparat wahrgenommen werden ).
Der Mensch ist gedrängt, mit dieser Weltgeschwindigkeit mitzuhalten. Sonst
entsteht in ihm der Eindruck, von der Welt überrollt zu werden. Im Spiel, wo
er lustvoll eine eigene Geschwindigkeit von Momenten der kleinen Zeit
hervorbringt, ist dem Menschen die Möglichkeit gegeben, aus sich heraus mit
der Weltgeschwindigkeit mitzuhalten. Er läuft der Welt dann nicht mehr mühsam
hinterher indem er sich verzweifelt bemüht, durch schnelle, von äußeren
Notwendigkeiten geforderte Reaktionen mitzuhalten. Sondern er läuft ebenso
schnell wie sie neben ihr her, oder überholt sie sogar. Das gilt vorallem für
das humoristische Spiel. In einem solchen, wo Einfall auf Einfall prasselt,
wo die überraschendsten Humorschübe uns überfallen bis uns das Zwerchfell
schmerzt, sind wir so viel schneller als die Welt. Und es ist ein Gefühl der
Selbstbehauptung, das uns davonbleibt. Dieses Gefühl der Selbstbehauptung
resultiert aus der Erfahrung selbstproduzierter Geschwindigkeit, schneller
Abfolge von Momenten der kleinen Zeit, welche aus dem innersten Drang des
Geistes, Bewegung zu werden, entstanden sind, und zwar in einer
Geschwindigkeit, die der Weltgeschwindigkeit gleichkommt oder sie sogar
übertrifft. Unser eigenes Streben ist dann schneller als die Welt. Produziert
eine höhere Geschwindigkeit. Aus sich heraus, nicht als Antwort auf eine
Notwendigkeit. Diese eigene Geschwindigkeit benützt die Weltimpulse, wird
nicht mehr von ihnen vorwärtsgerissen, |
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sondern greift sie sich, schneller als
diese sich von selbst einstellen würden, um eine Bewegung konkret werden zu
lassen. Ein Weltimpuls ist eine Wahrnehmung. Eine
Erinnerung an eine Wahrnehmung. Ein Reiz, auf uns einstürzend, dem wir nicht
entgehen können. Unsere Ohren können wir nicht verschließen. Unsere Hautoberfläche
spürt Berührungen. Unsere Augen sehen Millionen Einzelheiten. Unsere
Erinnerung gibt uns völlig unkontrollierte Impulse ein. Dieses
Auf-uns-Einstürzen, das uns Weltgeschwindigkeit suggeriert, erdrückt uns,
wenn wir es nicht verstehen, die Bewegung umzukehren und einen Sturz aus uns
hinaus zu produzieren. Dieser Sturz aus uns hinaus ist das Spiel. Im Spiel
sind wir ein kleiner Rest Eigenheit, indem wir eine Umkehrung des Weltsturzes
in uns hinein sind. Die Souveränität des Spielers, die lediglich darin
besteht, daß ihm sein Spiel bewußt ist und er noch auf dessen Verlauf Einfluß
hat, unterscheidet ihn vom Gehetzten, Gejagten, der auch den Weltsturz
umkehrt, doch ohne dieser Umkehrung eine eigene Nuance geben zu können. Der
Weltsturz prallt am Gehetzen quasi nur ab und schleudert ihn in von ihm nicht
mitbestimmte Richtungen, während der Spieler den Weltsturz verdaut und in
Richtungen umkehrt, die er mitbestimmt. Der Spieler spürt zunächst keinen Sturz. Er
horcht still auf die große Zeit, welche nicht auf einer Kette aufgereit ist
wie die kleine Zeit. Im Raum der großen Zeit verspürt er dann eine Regung,
eine Neugier, eine Lust. Eine solche Regung greift nach einem Weltimpuls,
ohne ihn einfach beantworten zu wollen, sondern um ihn in einer Verknüfung mit
anderen Weltimpulsen zu einer lustvollen Bewegung zu machen. Die Regung im
Spieler möchte Bewegungen schaffen, noch bevor sie von der überflut aus
Weltimpulsen gefordert würden. Bleibt diese Regung aus, so verharrt der
Mensch, der später ein Gehetzter sein wird, bis der Sturz der Weltimpulse
beginnt so stark zu werden, daß er von ihm umhergetrieben wird. Die
Weltgeschwindigkeit überholt ihn. Er läuft der Welt hinterher, ohne sie je
wieder einholen zu können. Sie ist ihm zu schnell geworden. Nur der Spieler kennt
keine zu schnell gewordene Welt. Das Spiel ist Einfall ohne Überlegung, ein
selbstvergessenes Singen ohne den Zweck der Präsentation, eine schöne
Vorstellung ohne Absicht zur Flucht. Es ist völlig leicht und ohne
Verpflichtung, daher kann es in jedem Moment ohne Verlust abgebrochen werden.
Kann ein Einfall, eine Vorstellung nicht mehr abgebrochen werden, sind wir in
den Ernst oder gar die Manie geraten. Das Spiel ist jederzeit abbrechbar. Es
ist jedoch eine Manie des Spielers insofern, als daß er immer wieder zu ihm
zurückkehren wird. Sobald die Weltgeschwindigkeit droht, ihn zu überholen.
Doch rührt die Manie nicht von ihm her. Sie ist begründet in der Permanenz
der Weltgeschwindigkeit. Die immer weiter macht. Die er in seinem Spiel nur
für Augenblicke überholen kann, welche ihm dann erlauben, das Spiel wieder
abzubrechen, weswegen es doch ein Spiel bleibt. Die Manie ist das Wiederbeginnen, erzwungen durch das manische Weiter
der Welt. Je schneller die Welt weiter macht und je größer ihre Geschwindigkeit
dabei wird, desto öfter muß der Spieler zu seinem Spiel zurückkehren. Und so
ist der Spieler ein typisches Produkt unserer Zeit, die mit größer und größer
werdender Geschwindigkeit weitermacht und deren Weltsturz heftiger und
heftiger in uns hinei nbricht. |
Norwegen
1990 - Reisebericht ( 21. Mai - 02. Juni 1990 )
Wer hätte gedacht, daß es in Europa ein
solches Land gibt ! Die Leere und die Erstreckung
Norwegens richtet sich an den Blick des Reisenden,
wie die straßendurchfurchten Weiten Nordamerikas. Wenn sich nach
stundenlangem Schweigen und Schauen über unberührte Wildnis plötzlich eine
Siedlung an der einzigen Straße entlangzieht, werden die Hinweisschilder mit
ihren Zeichen seltsame Boten, wie von einer Menschheit. Die Worte auf diesen
Schildern zu fremdartigen, im ersten Moment undeutbaren Verkündigungen von
einem jahrtausendealten Bemühen dieser Menschheit, das sie auf diesem
Planeten immer mehr zu Fremden gemacht hat, deren Existenz scheinbar nur noch
mit dem Wort: `merkwürdig' beschrieben werden kann. Und doch leben die
Norweger so einfach und selbstverständlich in diesen Landschaften, wie
vielleicht kein anderes modernes Volk in den seinen. Die Bescheidenheit eines
Holzhauses an einer Hangwiese über dem Wasser die im Norden des
amerikanischen Kontinents unweigerlich mit einem zweifelhaften Heldentum und
Pioniergeist durchsetzt ist, ist hier rein und klar und ohne Zusätze. Es mag
der einfache Unterschied zwischen dem Fallensteller und dem Fischer sein, der
noch heute den modernen Norweger zu einem so angenehmen Menschen macht. Die
Sæter der Osloer an der Küste weit über dem Polarkreis sind so nicht etwa die
Sommersitze einer das Abenteuer träumenden Zivilisation. Es ist nicht einmal
eindeutig zu erkennen, welches dieser Holzhäuser nur ein Sommersitz und
welches immer bewohnt ist, auch in der langen Nacht der Polarwinter. Denn die
auf der Karte zu einem kleinen weißen Kreis gemachten Ortschaften sind für
den Durchreisenden oft als solche |
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nicht erkennbar. Die Straße windet sich um die Küstenschleifen. Und am Wasser und an den Hängen stehen weit verstreut die Häuser, die doch immer Hütten geblieben sind. Dazwischen die Leere des Landes: völlig
unbewohnte Hochebenen, lange Täler mit unberührten Gletscherseen. Wenig Begegnungen, wie beim Durchfahren einer Wüste.
Fahren, Leere und Blick komponieren eine norwegische Choreographie: Auftritt
und Tanz der Landschaften. über einen Hügelkamm in eine andersfarbige, in
noch wilderem Licht glitzernde Leere. Drehung eines Tales um einen Berghang:
plötzlich, Flugzeuge tief weit unten die Fjordfähre. Weiter Blick in den
Meeresarm mitten im Gebirge: Nadelhölzer und klitzekleine Fabriken,
umgestürzte Öltanks, schon verrostet und als Geräteschuppen benützt, doch in
der Weite verloren, kaum erkennbar. Dahinter die Öffnung zum nordatlantischen
Meer. Auf einer Brücke über den Fjord, unter der
Ozeanriesen klein sind wie Lastkäne. Die kleine Straße im Steigflug hinauf
zur Steinwiese, vierhundert Meter über dem Meer: der Blick die Küste hinunter
streicht über eine unbewohnte Linie. Nur in kleinen Einbuchtungen ein paar
Holzhütten. Ende Mai sind die
Hochebenen teilweise noch völlig schneebedeckt, die Hochseen zugefroren.
Eisschollen brechen ab und triften auf den schmelzwassergespeisten Gewässern.
Blau und weiß. Schneefelder liegen noch in den Hängen. Das reine Weiß zieht
die Farben des Himmels und des Eises bis in die Frühlingswiesen herunter wo
es hemdsärmlig warm ist. Es gibt in Europa nur noch wenige solcher Wiesen:
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sind unvergiftet und reich an Arten.
Granitblöcke liegen darin, wie aus einem Marmorbruch. Moose und Flechten
wachsen über den Fels, und in den Lawinentrümmern, oft groß wie Häuser,
wachsen kleine Birken aus den feuchtdunklen Spalten der Steine, während sich
sonst noch kein Grashalm dort festhalten konnte. Lawinen haben große Wunden
in die Hänge gerissen. Die Katastrophe muß viele Jahre her sein, denn die
Straße zieht sich durch das Trümmerfeld, unbekümmert wie eine Eintagsfliege.
Aus über den Fels herabziehenden Wolken erstreckt sich das Lawinenfeld bis
tief unter die auf halber Hanghöhe laufende Straße. Der Räumlichkeitssinn
vermag das Gesehene nicht mehr aufzuschlüsseln. Die Alpen sind vielleicht
großartig. Norwegens Hochtäler und Fjordeinbrüche sind unfaßbar. Wenn es eine
Natur gibt in Europa vor der man Angst bekommen könnte, dann in Norwegen. Die Drehachse der Erde steht nicht
senkrecht auf ihrer Bahnebene um die Sonne. Sie ist geneigt. Der Erdnordpol
ist im Winter von der Sonne fortgeneigt. Im Sommer der Nordhalbkugel neigt er
sich der Sonne zu. So weit, daß in der Mittsommernacht alle Orte, die
nördlich des Nordpolarkreises liegen auch dann noch von der Sonne beschienen
werden, wenn die Erddrehung diese Orte von ihr weg gedreht hat. An diesen
Orten scheint dann die Sonne um Mitternacht über den Nordpol hinweg aus
nördlicher Richtung. Die klaren Farben, die der Himmel des Nordens einer
Landschaft und einem Himmel verleiht, liegen dann in der stundenlangen
Dämmerung der Morgen und Abende. Und die Nächte sind still, wie Nächte sind,
wenn auch die Dunkelheit nicht über sie kommt. Diese |
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merkwürdige Paarung der langen Dämmerungen,
des goldenen Schummerlichts und der völligen Stille einer Nacht legt einen so
fremden Zauber über das Land, daß es schwer fällt zu glauben, man sei noch in
Europa. Man geht auf einen Hügel und sinkt tief in
den Flechten ein. Braun gelb violett schwarz rot hellgrün weiß blauweiß matt.
Nur die Straße, kein Haus. Tiefer Himmel, Graugold. Aus klarweiter Entfernung
Vogelpfeifen. Daß in dieser Stille etwas lebt ! Viel
nasses Glitzern, Tröpfeln, Glucksen. Ungewohnt gefärbtes Gestein, ein Blau,
wie direkt aus dem Weltall. Wir sind in vier Tagen ans Nordkap gelangt. Die
Stille und die Schönheit des Landes brechen plötzlich und heftig über einen
herein, wenn man Tage und Nächte hindurch nur immer gefahren ist. Die Nacht am Nordkap wird wie das Anhalten
eines Lebens. Ein Atemholen und plötzliches Erkennen, daß es nur eines
kleinen Schritts bedarf, um für immer in die Stille zu treten. Ein kleiner
Schritt über eine Klippe hinaus. Ich bin sehr schweigend durch diese helle
Nacht gegangen. Ich habe nichts mehr erwogen, nichts mehr resümiert. Ich habe
nur wehrlos auf die Gefühlsbilder aus einem Leben gestarrt, die ohne
Wortgedanken flimmerten, wie frühe Stummfilme. Ich habe auf das Warten
gelauscht, bis es mir noch einmal meinen Atem schenkte. An einem solchen Ort,
wo das Schweigen des Weltalls bis an die Steine greift, wird einem das Leben
zu einer traurig belächelten Belanglosigkeit. Es gibt von so einem Ort im
Grunde kein zurück. Wir fuhren zurück und ich nenne es jetzt lächelnd ein
großes Geschenk. Dort, in der Polarnacht war es das geschenkte Leben. |
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Ach Herz |
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Um uns nicht gleich in die allerliebste
Verzärtelung oder das Herzeleid mitteleuropäischen Kulturverständnisses zu
begeben, wollen wir hier eine markante Erfindung der Menschheit voranstellen,
gewissermaßen in Erinnerung rufen: den religiös rituellen Brauch
mittelamerikanischer Indianervölker, einem Opfer bei lebendigem Leibe das
schlagende Herz aus der Brust zu reißen und das noch zuckende Stück Muskelfleisch
auf einem Opferstein zu zerreiben. Daß man die Opfer vor dieser, zugegeben mit
rigorosester Sorgfätigkeit betriebenen Vernichtung einer Menschenseele, vor
dem delikaten Eingriff noch dazu zwang zu tanzen, entbehrt nicht einer
gewissen Einsicht in die höhere Tragikomik irdischen Seins und bezeugt
sicherlich ein filigraneres Verständnis von den Furchtbarkeiten des Lebens
und des Todes, als dies der an selbigem Orte vom Bringer europäischer Kultur
Hernan Cortez erfundene Foltertod bezeugt, bei dem einem Opfer das
Schädeldach weggemeißelt und erst über einigen auf das Gehirn gelegten
glühenden Kohlen wieder geschlossen wurde. Doch wir wollen uns hier nicht in der
sinnlosen Diskussion ergehen, welche Kultur nun die niedlichere ist und uns
wieder zeigen könnte, daß wir Menschen halt doch auch gut sind. Wir denken an
die noch warmen Fleischfasern auf den Opfersteinen hier nicht, um etwas über
die mittelamerikanischen Indianerkulturen zu sagen, sondern etwas über das
Herz. Wir müssen es ja alle zugeben: |
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Die Vorstellung des oben erwähnten
religiösen Brauchs erweckt ein Grauen, das mit keinem Hinweis auf die
rituelle Umgebung des Vorganges getröstet werden kann, denn die Erfindung
dieses Brauchs ist schlichtweg meisterhaft und von endgültiger Härte und
Grausamkeit. Welches Menschenwesen, in dessen Brust so ein Herz schlägt, und
zwar so an die 100 000 mal an einem Tag, könnte ohne
Grauen von einem solchen Brauch hören. Darin liegt allein die
Meisterhaftigkeit dieser ausgeklügelten mittelamerikanischen Priestererfindung.
Und die Grausamkeit des Vorgangs wollen wir in einen größeren Rahmen stellen
als den einiger blutüberströmter Handwerker der Götter. Wir denken an die
Grausamkeit des Menschen und seiner Welt, die ihn hervorgebracht hat. Spätestens seit Darwin hat es auch das
aufgekärte Europa wieder zugestehen müssen, daß wir mitten im Kampf der Arten
leben, und daß innerhalb der Arten noch der Krieg der Individuen tobt. Wenn
ein irdisches Wesen das andere packt, das sterbende Opfer mit seinen Zähnen
zermalmt, während dessen Herz seine letzten, wilden Schläge tut, so gehört
dieser Vorgang eigentlich zur stinknormalen Tagesordnung der Welt. Und der
empfindsame Denker kommt nicht daran vorbei, daß so, und eben nur so, die
Welt aufs Grausamste ihren Arten die Nahrung sichert. Ob nun die Indianer
Mittelamerikas noch recht taten, wenn sie das Herz eines Menschen zermalmten ( und ihn anschließend verzehrten, obgleich
sie auf den Verzehr seines Fleisches für ihre Ernährung allein nicht
angewiesen waren), wollen wir |
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dahingestellt lassen. Uns ist nur wichtig,
daß es geschehen kann daß ein Wesen das andere zermalmt. Daß da Herzen in
einer Welt schlagen, die sie herausreißen und zermalmen kann, erbarmungslos
und ohne Gerechtigkeit für den Einzelnen. Mitten in einer solchen Welt schlägt nun
das eigene Herz. Und endlich wollen wir denn auch in die Tiefen seiner
Rührungen und seiner Wehrlosigkeit hinabsteigen. Da schlägt nun das kleine
Herz so emsig in der Brust, wie erwähnt etwa 100 000 mal
im Verlauf eines einzigen Tages, und sucht sein stilles Glück und seinen
Frieden. Mit der liebenswertesten, blindesten Wehrlosigkeit erliegt es dabei
immer wieder seinen unbegreiflichen Rührungen. Dem Erwachsenen geht es dabei
keinen Deut besser als dem Jugendlichen, der noch sehr an die Regungen seines
Herzens glaubte. Denn so abgeklärt der Erwachsene sein mag, auch er erliegt
diesen für den Außenstehenden oft unbegreiflichen, zuweilen dümmlich
anmutenden Rührungen seines Herzens wie ein frischverliebter Backfisch,
dessen entflammtes Herz dann von einer unfreundlichen Welt munter auf einem
Opferstein zerrieben wird. Gewiß, der Vergleich dramatisiert die
vergebliche Liebesmüh auf ein Niveau, wo sie nicht hingehört. Verschmähte
Liebe ist geradezu niedlich und harmlos angesichts des Menschenherzopfers.
Und doch treibt sie Herzen zuweilen in den Tod. Sie kann den Mut und die
Lebenskraft eines Menschen nachhaltig zerstören, ihn und seine ganze Existenz
auf eben nur dieses kleine, in der Brust noch schlagende Herz reduzieren, das
gegenüber einer Welt mit ihren Gesetzen so |
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verletzlich ist. Ach Herz. Da liegt man und starrt auf die
Zimmerdecke oder ins Dunkel und hört es schlagen. Fühlt es eher, als daß man
es hört und doch scheint es ein Geräusch in der Stille zu machen. Ein
Geräusch, das man auf eigentümliche Weise ist. Stück Leben, Zuckung gegen den
Tod. Was treibt so ein Herz zum Schlagen ? Ist diese
Frage nicht wichtiger als die nach der Identität ?
Da schlägt es also und wird eben nicht zerrieben und man muß weiter. Die
verschmähte Liebe und die zerbrochenen Träume kehrt man flugs unter den
Zeitteppich, man atmet einmal tief durch und wendet sich wieder der Welt zu,
denkt an die lange Zeit, die schon vergangen ist, an Menschenopfer, an
friedlichere Begebenheiten, an Belangloses, schreibt einen Weltspielspiegel.
Und brav und noch verläßlich schlägt das kleine Herz seine guten 100 000 mal am Tag ohne von all dem zu wissen. Man lächelt leicht
gerührt und ist diesem emsigen kleinen Ding dankbar, das wie ein Buster
Keaton immer wieder aufsteht und weiterhastet. Und schließlich ist man selbst
dieses Weiter, das nicht anhält solang man auf dieser rollenden Kugel
umherhüpft, man muß mit, tut es ja auch gerne, hält seinen Platz, treibt
seine Spiele, erledigt die Notwendigkeiten, läuft zutraulich in die
Begegnungen hinein, lacht, gewinnt, verliert und bleibt am Drücker eines
Lebens, solange eben das Herz schlägt. Und da es eben gegen zwölf Uhr Mittags
ist, hat es wohl gute 50 000 Schläge für heute runter. Gönnen wir uns, was sich der kleine Apparat
niemals gönnt: eine Halbzeitpause. |
Ins Jahrzehnt der Titte |
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Es hatte sich durch die Achzigerjahre
hindurch unaufhaltsam angekündigt und bricht nun hemmungslos und ohne Skrupel
aus: das Jahrzehnt der Titte. Jede noch so unansehlich gewachsene Frau, die
Altersobergrenze verwischt sich bei Ende 30, hängt in der Nachsaison der
Sechziger Jahre und der in den Siebzigern vehement verfochtenen
Unverkrampftheit die |
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fleischwabbernden, unförmigsten
Früchte des Unästhetischen schamlos ins T-Shirt, dessen viel zu weiter Achsel- und
Halsausschnitt Luft und Frische, aber leider auch den Blick hineinlassen, ob nun
einer will oder nicht. Daß sich dem Auge dabei ab und zu sogar ein durchaus
ästethischer Anblick bietet, hält die Redaktion des Weltspielspiegels für
reinen Zufall. Denn es will |
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angesichts des fleischigen Gewabbers doch
so scheinen, als sei die Ästethik bei dieser `Befreiung' völlig aus dem
Blickfeld geraten. Eher pöbelhaft ungezwungen fleischt da Körper zur Luft
und, wie erwähnt, eben auch zum Blick. Erklären wir uns also im Jahrzehnt der
Titte und weisen wir gleich die richtige Richtung: noch ein gutes Stück
weiter von |
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jedem Feingefühl und jeglicher Ästhetik weg
hinein ins Reich des internationalen Verschlampens und Dummiezens.
Beglückwünschen wir den Glücklichen, dem dabei durch reinen Zufall die Gnade
eines schönen Anblicks zuteil wird und erst recht den Unästheten, dem
tittiges Gewabbel in jeder Form irgendwo südlich des Bauchnabels in die
Organe fährt. |
Letzte Lust |
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Wenn einem, was ja ein jeder kennt, die
sogenannte reale Welt mit ihren Dingen, die so handfest ( oder handgemein )
sind, schließlich die letzte Lust auf einen Zugriff und Genuß verwehrt hat,
dann steht es schwierig darum, noch eine wirkliche Lust zu erleben.
Sicherlich bleibt einem die schöne Vorstellung, doch der kurze Moment ihrer
Lust bleibt nicht nur körperlos, sondern verschwindet ins Nichts einer
Weltgeschichte im Moment seines Vergehens. Nichts hält man nach einer bloßen
Vorstellung schließlich in Händen, alles nur Luft und Wind. Doch irgendwann hat die Menschheit, wenn
auch zunächst zu recht derbfunktionalen Zwecken, die |
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Schrift entwickelt. Und damit ist uns, die
wir begabt sind unsere Gedanken in Sprache zu formulieren, ein einzigartiges
Instrument an die Hand gegeben, als frustrierte und verängstigte
Erfahrungsgeschädigte doch noch einmal eine wirkliche Lust zu erleben: die
Lust des Formulierens. Wir beglückwünschen an dieser Stelle den
Künstler ( und zählen durchaus den armen
Schriftsteller dazu ), der in seiner Kunst sicherlich einen ganz ähnlichen,
sich natürlich auf höherem Niveau tummelnden Vorgang erlebt. ( Wir selbst zählen uns natürlich nicht dazu ). Denn wer formuliert, der ist nun wirklich noch
lang kein Künstler. Er |
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spielt mitunter nur. ( Und nur dazu zählen
wir uns, zu den Spielenden ). Doch ist selbst das
niveaulose Formulieren, zumal auf Papier, eine recht wirkliche Lust, sofern
man nichts weiteres im Blickfeld hat als eben das
Formulieren. Wer gerne Briefe schreibt, dem ist dies sicher nicht unbekannt.
Vielleicht hat man im Grunde nichts zu sagen, zumindest wäre es egal, es auch
nicht gesagt zu haben, aber da stehen die Worte auf dem Papier und sehen
einfach fabelhaft aus. Da ist man Urheber von Sprache ( die man ja nicht
selbst erfunden hat ), die Worte legen Zeugnis von einem ab, von dem Moment,
in dem man die formulierten Gedanken hatte und eben auch von der Lust dabei,
die nicht einfach in die lange Zeit verschwindet. Man spielt die Sprache wie
ein |
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Musikinstrument, improvisiert eine eigene
kleine Melodie. Und wie es eben beim Improvisieren so ist: dem Spieler des
Instruments macht es Freude ( die vom Zuhörer nicht immer geteilt werden kann
). Nur die Grundregeln des Improvisierens sind andere, als bei der Musik: die
Sprache, die Einfälle, die Auswahl aus der Gedankensuppe. Sind Sie also einer
der Menschen, die zu nichts mehr so recht Lust haben, dann könnte das
Formulieren auf Papier auch für Sie noch die letzte Lust sein. Wir raten:
beginnen Sie mit Briefen oder kuzen Essays. Sie kennen ja die Kurzglosse aus
ihrer Tageszeitung ( und was da so professionell
gelangweilt hervorgezaubert wird, das gelingt Ihnen auch ! ). |
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Da sie nun naht, die allerletzte Stunde des
August 1990, neigt sich diese Ausgabe des Weltspielspiegels ihrem Ende zu.
Wir heben den Kopf, lauschen auf die Geräusche der Nacht, die durchs
geöffnete Fenster hereinwehen und bedenken, etwas melancholisch, daß es nie
mehr in der endlosen Geschichte des Universums einen August 1990 geben wird. |
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Denn schon saust unser Planet weiter um
seine Sonne und auch die bewegt sich mit der Drehung unseres Spiralnebels im
Raum herum und wir werden nicht einmal mehr eines Tages denselben Ort
erreichen, an dem wir in dieser nun angebrochenen letzten Stunde des Augusts
1990 sind, geschweige denn diese eine Stunde selbst. |
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Etwas betrübt stellen wir fest, daß es
damit auch nie mehr eine Juli/August 1990 - Ausgabe des Weltspielspiegels
geben kann, an der wir so eifrig und mit Vergnügen gebosselt haben. Wir
trösten uns also mit eben dieser Einzigartigkeit in den unendlichen Tiefen
der Zeit, die auch unser Weltspielspiegel ( Heft Nr. 2 ) dadurch erlangt, daß
alles fließt und uns kleinen |
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Erdenwichten nichts bleibt, sondern all
unser Werk und unser Sein unter unseren Fingern zerrinnt ohne Wiederkehr. Nun
beginnt in der unbegreiflichen Dramaturgie des meteorologischen Theaters auch
noch ein schwerer Regenschauer mit Donnertüschen und wir nehmen dies Geschenk
des Himmels gerne an. |
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Schwaben Schweiz Rumänien England
Jugoslawien Frankreich Österreich Italien Finnland Schweden Dänemark Belgien
Deutschland Algerien USA Kanada DDR Spanien Irland Tschechoslowakei Mexico
Kenia Ruanda Zaire Burundi Norwegen Guatemala Trinidad/Tobago Venezuela
Kolumbien Holland Ginge es nach unserem oberflächlichen
Eindruck und unseren einfachen sprachlichen Vorstellungen, dann wären wir
alle alte Kenner unserer Welt und der Länder, die
wir bereist haben. Aber eine Komplettheit zu beanspruchen wenn wir von einem
Land oder einer Stadt reden dürfte uns niemals einfallen. Wir nennen Welt,
was wir von ihr gesehen haben und was wir in Vorstellungen ergänzend zu den
wenigen tatsächlich gemachten Beobachtungen und Wahrnehmungen hinzufügen.
Doch in Wirklichkeit kennen wir von dieser Welt, und hier ist zunächst nur
die geographische Welt gemeint, nur winzige Teile, oder besser
: aus dem riesigen unbekannten Terrain ausgeschnittene Bahnen des
Gesehenen, Bereisten, Beschrittenen. Nicht einmal einen Stadtteil kennen wir
je, nur Straßenzüge, Höfe, Hausflure, ein paar Zimmer. Wir erinnern uns an
was wir dort gesehen haben. Auf diese Weise schneiden wir unser Blickfeld
entlang unserer Wege durch die ganze Welt und sollten vorsichtig mit der
Behauptung umgehen, wir kennten ein Land, eine Gegend oder eine Stadt. Unsere
Augen sind geschweift, haben uns Blicke gefangen, die uns manchmal bleiben,
vorallem wenn wir diese Blicke mit Gedanken gemengt haben. Dann finden wir
sie auch oft nach Jahren, manchmal zu unserer Überraschung, wieder. Doch wir |
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wissen fast nichts von den Plätzen, die wir
gesehen haben. Mein Aufenthalt in England im Jahr 1973 war
in einer Hinsicht meine erste Reise: es war die Zeit der ersten großen
Einsamkeit eines allmählich jugendlich werdenden Kindes. Es war die Zeit, als
die Musik begann: das leise Singen auf den Spaziergängen allein. Ich war
vierzehn Jahre alt. Als die Wolken aufrissen zeigte sich Grün. Graue Bänder
darin: die Straßen, wo sie links fuhren. Ich sah die roten Ziegelhäuser von
sehr hoch oben aus dem Flugzeug. Der graurissige Beton des Flughafens Luton
meine erste Berührung mit dem Land meiner Zaubersprache. Im Bus saß ich zunächst alleine. Ich wollte
es so. Ich weiß nicht mehr, was ich sah. Doch ich schaute wortlos und ohne
eine Sekunde unachtsam zu sein. Nichts war beiläufig. So schnitten meine
Blicke ein Stück der Strecke von Luton nach Dartmouth aus dem Land heraus.
Ich blickte nach links aus dem Fenster, bis sich ein Mädchen zu mir setzte.
Wir hatten uns ineinander verliebt. Der Busfahrer, ein alter Mann mit feinen
Aderrissen unter der Gesichtshaut, schaltete und arbeitete schwer an einem
überdimensional großen Steuerrad. Der Bus war alt. Kein Überlandbus, wir
hatten eine Panne gehabt und ein Stadtbus war geschickt worden. Spät kamen wir
in einem schlafenden Dartmouth an. Der Mann meiner Gastfamilie fuhr mich
wortkarg zum engen Haus in der Fairview Road. Die Frau, blondgelockt, mit
großen Augen, im wässrigblauen Morgenmantel in der Küche. Ich war ganz
befangen. So viel Freundlichkeit hatte ich nicht auch noch erwartet. |
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Im ersten Wagen hinter der Lok bekommt man
oft auch in vollen Fernzügen noch ein Abteil allein. So saß ich von
Paris-Montparnasse bis Nantes allein am Fenster, schrieb und schaute. Füllte
einen Fragebogen der Societé Nationale des Chemins de Fer aus, der ich zu
meinen Reisegewohnheiten auf dieser Strecke befragte. Ich erinnere mich auf
den Blick hinunter auf die Loire bei Angers. Und wie
wir in den Bahnhof von Nantes einfuhren, wie ich das Fenster öffnete und
hinaussah. Die Gebäude Kästen. Drähte, Schienen, abgestellte Vorortzüge, wie
überdimensionierte Modelleisenbahnwagen. Rund, mit bizzarren Blechen um die
Scheinwerfer, was die Franzosen in den Fünfziger Jahren für schick gehalten
haben müssen. Etwa elf Kilometer unter uns zogen sich
Häuserreihen durchs schottische Grün. Mir schauderte einen Moment, denn ich
hatte mich gefragt, wie lange man wohl fiele, bis man dort unten aufschlüge,
mitten im Land, das einem unerreicht und fremd blieb auf diesem Überflug von
Paris nach Miami. Jahre später sah ich auf Fotos das abgerissene Cockpit der
PA 103 bei Lockerbie in einer Wiese liegen, in diesem festen Grün der
angelsächsischen Grasnaben. Nach meinen Spaziergängen durch die sanften,
grasbewachsenen Chiltern Hills. Ich roch die feuchtbraune, torfige Erde, an
meinen Handflächen die abgeschürfte Rinde der
verwachsenen Birch Trees. Sah den feuchtkalten Wind in den Frühjahrszweigen.
Lief viele Meilen weit über die runden Hügelkuppen und sah in Täler. Saß an
kleinen Flüßchen unter den Trauerweiden und lauschte in das klarkalte
Glucksen, bis mir |
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vor Einsamkeit schaurig wurde und ich mit
schnellen Schritten die Landstraße entlangging, zwischen mannshohen Hecken.
In die ersten Häuser Cheshams hinein, die so nah an der Straße stehn, daß man
die Lastwagen beim Vorüberfahren von den Fensterbrettern aus berühren könnte. Eine tropfnasse, grüne Dunkelheit zog sich
unter den Bäumen hin, wie neblige Durchfahrt, eine enge, lange Passage, ein
Tunnel. Ich hatte beschlossen, durch den Regen nach Hause zu laufen und nicht
die UBahn zu nehmen. Denn etwas hatte mich angerührt bei diesem Blick unter
der Baumkronenreihe hindurch. Im Zimmer sah ich den Bettrand und den Teppich,
der von Bröseln und scheuernden kleinen Kiessteinen bedeckt war. Aus dem
Fenster fiel mein Blick über den neonerleuchteten Platz auf die von innen
beleuchteten Ladenschilder und die Fassaden, wie sie im Obergeschoß der Busse
an einem vorbeizogen im Wippen des Wagenkastens. Kalte dunkle Blicke ohne
Farben. Hell und bunt waren immer nur die Schaufenster und die Neonschilder.
Blau der Tankstellen, Rot der Tankstellen. Der Kottbusser Damm, zwei
Banderolen aus bunten Plexiglaslichtern in Höhe des ersten Stockwerks, mit
übergroßen Buchstaben ohne Ornament. Nüchterne Mitteilungen, die in den Augen
schmerzen. Nur von weitem bekamen diese Lichtquellen etwas Orientalisches.
Doch sie waren immer nur Lichtbahnen im Schwarz. < Konzept zu einer Erzählung:
`Augenreise'. Etwa 1990 >. |
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Die Straßen ziehen einen Strich in die
Weite oder enden abrupt an einer Mauer. Sie stoßen auf ein Netz aus sich
selbst in den Städten und tauchen darin unter. Immer sind sie geduldiger als
der, der sie beschreitet. Ihr Atem ist lang. Länger als der Atem der
Kulturen, die sie gebaut haben. Wir, die Beschreitenden dieser Straßen,
lassen uns auf ihren geheimen Netzen beim Kennenlernen der Welt leiten. Wir
leben unter dem Eindruck, diese Straßen zu wählen. Doch wahrscheinlicher ist,
daß wir immer wieder nur ihren alten Verläufen folgen, ohne es zu beachten. Dabei
wird von ihnen bestimmt was wir sehen, was |
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wir später behaupten zu kennen, was uns in
diesem Leben begegnet. Wo viele gingen entstand ein Pfad. Wieviele
mußten es sein, bevor der Pfad zur Straße wurde ?
Via Appia antiqua. Weiter gehen. Die Seidenstraße über Sardes und Susa und
Persepolis bis ins chinesische Hochland. Ungängige Barrieren überwinden. Von
Quito nach Cuzco über die Anden. Schneller. Immer glatter die Oberflächen,
der Stein, der Teer, der Asphalt. Der die Richtungen trennende Mittelstreifen
auf der Autobahn. Europa durchquert in zig Stunden. |
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Auf den Straßen ist unser Unterwegs
beheimatet. Was wüßten wir von Entfernungen, von der Weite
? Wir haben sie erfunden, weil uns das Unterwegs treibt. Ebenso ruft
ihr Anblick in uns ein Unterwegs an. Sie sind die Zeichnungen unseres Gehens
auf der Erdoberfläche. Wem nichts mehr zu tun einfällt, der sollte
einfach den Straßen folgen. Es wird ihm gut tun wie kein Gebet, keine
Disziplin, kein aus hohen Ansprüchen verfolgtes Handeln. Es bedarf dazu
wenig. Ein Gefährt vielleicht. Eine übereinkunft zum Mitfahren. Dann erzählt
sich wortlos eine lange Geschichte. |
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Unsere Geschichte. Wie wir den Horizonten entgegenzogen. Wie wir in die Weite
schauten. Wie und wo wir siedelten. Wie wir fremd waren,vorbeikamen,
einen Platz fanden, der uns angenehm. Wie wir nach einer Rast weitergingen,
fort, umkehrten, zurückfanden. Wie das Gesehene in uns war. Die Schritte, die
Meilen, die Hügel, Wälder und Ebenen. Die überquerten Bäche. Die Fläche der
Seen. Wie vor uns das Band der Straße sich hinzog. Uns zu Blickenden machte,
deren Worte verstummten. < Konzept zu einem Essay: `Straßen'.
Etwa 1990 > |
Das Reisen |
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Es war das Fremde in einer gleichförmig
gewordenen Umgebung der westdeutschen Städte nach den
Fünfziger und Sechziger Jahren. Die sauberen Vorstädte, die makellosen
Häuser, die geometrischen Autobahnen. Es war die Sehnsucht nach einer Rührung
des Unperfekten, die allein das Staunen ohne ein Entsetzen möglich macht. Es
war die Antwort auf die westdeutsche Langeweile. Das Reisen hat einen kleinen Bruder: das
Fahren. Zuerst war es das Fahren in der Straßenbahn durch unbekannte
Stadtteile, zum Kino oder Schwimmbad im anderen Stadtteil, das Hinaus über
die Hügel und in die Wälder und Wiesen, und natürlich der erste Teil der
ersten Reisen : die Fahrt zum Hauptbahnhof. Was dort begann, war das völlig Unbekannte.
Abteilfenster auf die Welt. Sitzen und wortlos schauen. Geschwindigkeit. Dann
die Zeit der Autos. Sie reduzierten die Kurzreise wieder zur Fahrt, denn die
Ferne gehörte noch lange der Eisenbahn. Es kamen die Stunden hinter den Kabinenfenstern
der Flugzeuge, das Stehen an einer Reling. Die lieblosen Hallen der
Flughäfen, die Busbahnhöfe der Länder, in denen der Bus das wichtigste
Verkehrsmittel ist. Zuletzt lernte ich die unbefestigten Straßen der
einfachen Länder und die endlosen Fernstraßen kennen, |
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die ganze Kontinente durchziehen und erst
vor einem Meer halt machen. Immer länger wurden die Strecken, die ich auf den
Straßen zurücklegte, bis sie zuletzt in einem Jahr länger wurden, als der
Äquator. Und heute gilt meine Liebe den unscheinbaren Landstraßen, die sich
von keiner kleinen Bezirkslandstraße unterscheiden lassen und doch viele
Tausend Kilometer durch die Länder führen. In Europa sind es die alten
Europastraßen, die man vor der Erfindung der Autobahnen anlegte. Oft sind sie
sehr alt. Zwischen großen Zentren sind sie manchmal mehrspurig ausgebaut, man
hat sie für die aktuellen Bedürfnisse benützt. Doch jenseits der Zentren
sinken sie wieder in die Bedeutungslosigkeit einer Landstraße ab, eng,
holprig, unbeleuchtet. Die Vielen benützen sie nicht mehr. Und nur der weit
Reisende erkennt ihre Choreographie. Sie sind zu alt, um die Ortschaften zu
umgehen, sie sind noch nicht in die Hügelhaufen begradigt. Sie folgen noch
dem Lauf eines Gewässsers und laufen dafür oft an den neuen Zentren vorbei,
wie alte Leute am Supermarkt. Das Reisen auf solchen Straßen ist nicht
geprägt von der Aktualität einer Epoche. Man reist eher durchs Land, als
durch seine Kultur. Sie vermitteln Zeit und Geschichten, die man auf den
Autobahnen, in den Flugzeugen und Schnellzügen nicht mehr vernimmt. Sie sind |
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gut für die stille Weite, aber nicht für
die hastigen Kilometer. Für Fernreisen benützt sie heute keiner mehr, und
doch sind sie vielleicht die aufrichtigsten Reisestraßen. Das Reisen ist eine Bewegung der Sehnsucht
und was dem Reisenden immer begleitet und ihm
zuletzt bleibt ist die Melancholie. Erinnerung, Orte und verwehte Zeit, die
der Reisende ständigt herstellt und die in seinem Kopf und Leib ein vages
Muster knüpfen, holen ihn, der die Welt durcheilt, zuletzt gerade aus ihr
heraus. Wer einmal begonnen hat zu reisen, der reist, hungrig an der Welt,
immer weiter, selbst wenn ihm nur der einsame Spaziergang in seinem
Stadtviertel vergönnt ist, oder die tägliche Fahrt zur Arbeit, die für ihn
jedoch zu einer eingeschränkten Reise wird. Allen Reisenden, die auf solche
Weise reisen und nicht, weil sie sich durch die Reise vor anderen wichtig
machen wollen, steht eine Melancholie in den Augen, an denen man sie erkennt.
Diese leichte Traurigkeit hat sie wahrscheinlich auf ihre Reisen geschickt,
oder sie wenigstens ihre frühen Fahrten als Reisen erkennen lassen. Unter dem Reisenden dreht sich die Welt,
auf der er nicht mehr verwurzelt ist. Die Fortbewegung, die Geschwindigkeit
sind seine Aufgabe. Diese Aufgabe trennt ihn von den Orten, an denen er
erscheint und macht ihn den |
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Bleibenden fremd. Der Reisende beantwortet
den Blick in den Raum zwischen den Sternen nicht mit demütiger Religiosität,
sondern mit einem Schauer vor dem Boden, auf dem er steht. Sein Streben gilt
der durcheilten Leere, nicht dem fruchtbaren Sein, das sich in Tod, Zeugung
und Geburt ewig zu wiederholen versucht. An der Ewigkeit interessieren ihn
nur die Zeiträume, in denen etwa Planeten den Weltraum durchmessen. Er mißt
die Welt nicht innerhalb seiner Generation, sondern angesichts von
erstandenen und versunkenen Ideen und Kulturen. So bleibt er selbst der
Generation, den Ideen und der Kultur, die ihn hervorgebracht haben ein
Fremder, oder wenigstens ein Zweifelnder. Zuletzt hat er kein Heim und
Zuhaus. Er kennt nur Stützpunkte, zu denen er einige Jahre lang zurückkehren
wird von seinen Reisen. Doch er wird sie immer wieder wechseln, wenn es ihm
die Umstände auftragen. Wenn er zu alt wird zum Reisen, wird er in seiner
näheren Umgebung umherschweifen, ziellos, nur damit er unterwegs ist. Er wird
sich nicht an Kegelabenden beteiligen oder an den lauten Kartenspielturnieren
der fröhlichen Runden. Sein Leben wird im Gegenteil immer stiller werden.
Denn sein Lärm wird vorbei sein: das metallene Schlagen der Züge, das Rollen
der Reifen, das Zischen des Fahrtwinds. < Entwurf zu einem Essay: `Das Reisen'.
Etwa 1990 > |
Die Harmlosigkeit |
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Eine der überraschendsten Eigenschaften ist
die völlige Harmlosigkeit der Menschen. Als sei kein Schreien in ihnen, kein
riesiges Schweigen, das sie umgibt, keine Fragwürdigkeit in ihrem Sein. Sie
scheinen in aller Ernsthaftigkeit dem Tagesgeschehen zu folgen, als |
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gäbe es keine Verwirrung der Wirklichkeiten
in ihnen, als lebten sie ohne Ahnungen, ohne die zarten Mitteilungen einer
Fremdartigkeit, als seien sie fraglos im Besitz ihres Lebens, ihrer
Situationen, ihres Daseins. Ihre Sprache ist dementsprechend klar und fest. |
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Ihr Denken wägt Tatsachen ab. Ihre Augen
suchen keinen Kontakt. Sie sind bloß Sehorgane. In der dunkelsten,
sternüberzogenen Nacht können sie neben einem gehen wie durch eine
Fußgängerzone. Die Prankenhiebe eines Windes übersehen sie. Über den |
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Unterschied zwischen Draußen und Drinnen
setzen sie sich mühelos hinweg. Über die Liebe sprechen sie wie über
Warenpreise. < An dieser Stelle abgebrochen.
`Spiele´. > |
Von
der Schwierigkeit, bezaubert zu sein
Wenn es eine Behutsamkeit gibt, die ich
liebe, so ist es die Sprachlosigkeit der Dinge. Ihr Schweigen, das den
eigenen Blick auf sie weit macht, klar und ruhig, das ein Interesse
ermöglicht ohne den Zwang, sich in eine Beziehung zu ihnen zu setzen und
diese Beziehung gleich aussprechen zu müssen. In der lauten Umgebung der Sprechenden
werde ich mehr und mehr zu der Überzeugung gedrängt, daß nur zauberhaft sein
kann, was sprachlos ist. Denn der Zauber der Welt entspringt der
Behutsamkeit. Dem Dasein ohne Durchdringung, ohne Konfrontation. Nun leide
ich in diesen Zeiten der allgemeinen Unzufriedenheit und Hysterie schon seit
längerem an einem Mangel an Umgang mit Menschen, die mit einer behutsamen
Freundlichkeit auf die Welt schauen würden, und es scheint mir selbst nur
eine eigene Überreaktion auf die schlechte Laune der Leute und ihr
permantentes Schimpfen zu sein, das mich die Sprachlosigkeit in einem so
hohem Maße favorisieren läßt , wie es ihr eigentlich gar nicht zusteht. Denn
eine völlig sprachlose Welt ist auf lange Sicht nur still, einsam und
gemütsbelastend. Es fehlt ihr an Mitteilung, und damit meine ich nicht die
belanglosen Episoden eines durchschnittlichen Alltags in einer der sieben
führenden Industrienationen, die hinlänglich so erzählt werden. Eine
Mitteilung ist behutsamer, freundlicher. Ihr ging eine Faszination voraus,
eine Annahme von Welt, ein Erstaunen oder eine Rührung. An manchen Tagen,
wenn ich die mir lieben Menschen nicht gesehen habe und meine Zeit alleine
oder auf der Arbeit |
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zugebracht habe, fällt es mir oft selbst
nicht leicht, der Welt freundlich zu begegnen. Manchmal hilft mir eine
zufällige Beobachtung, ein besonderes Licht auf den Hausfassaden, ein
unvermittelt hübscher Ton im Geräuschbrei, eine plötzliche Erinnerung, um mich
aus der Tagessuppe aufhorchen zu lassen. Hatte ich dieses Glück jedoch nicht,
so muß ich selbst tätig werden. Ich räume etwas in der Wohnung, das vertreibt
das Gefühl, noch so vieles erledigen zu müssen. Dann kann ich mich an eine
der Beschäftigungen machen, die aus dem Alltag ein schönes Dasein machen. Ich
setze mich an einen ruhigen Ort, atme, rauche. Ich bereite mir eine Mahlzeit,
esse langsam. Ich sage einige Worte in die Stille, Worte, die ich liebe. Ich
schreibe, ziellos, ohne Hintergedanken, den Zeilen hinterher, die ich mit den
unendlich schönen, rätselhaften kleinen Zeichen fülle, die Worte tragen,
Sprache, die nicht mit Sprache beantwortet wird sondern mit einer Weite in
meinem Bewußtsein, das mir erzählt, dass es einen Horizont gibt, einen
Himmel, Wind und Wolken, dass die Zeit noch größer und leichter ist als aller
Raum, als alles Licht. Mir erzählt, dass ich noch da bin, trotz alledem, was
da täglich nach mir schlägt, was mich in den Nächten ins Schwarz ziehen will
noch da bin, lächeln kann, singen, einen netten Gedanken denken. Es läßt sich
nicht genau beschreiben was da geschieht, es ist nichts mysteriöses, es ist
klein, leicht, unerheblich, es kichert in sich hinein und hat keinen Bestand
gegen die Gemeinheiten der Welt, doch es rettet mein Herz. Und nur es. Nun ist es schwer gegen die |
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laute Welt zu halten und gegen Menschen,
die eine Bedeutung, eine Wahrheit und seriöse Erkenntnisse suchen. Noch
schwerer gegen alltagsgeplagte Menschen der Neunziger Jahre des Zwanzigsten
Jahrhunderts. Ihre Nervosität und ihre Arroganz gegenüber solchen
Kleinigkeiten kann mir eine Situation schnell versauen und dann muß ich fort.
Auf die Straße, ins Café‚ oder an meinen Computer. An einen Ort wo es möglich
ist, bezaubert zu sein, ohne mich dafür rechtfertigen zu müssen. Eine leichte Traurigkeit schwebt dann in
diesem leichten Gefühl des Tanzes mit der Welt, daß es ein Tanz alleine
bleibt. Denn nichts ist zeitloser, geschwinder und heller als leichte Worte
zwischen Menschen, die ruhige, gemeinsame Freude am Dasein und seiner
Rätselhaftigkeit. Doch auch nichts ist seltener. Wenn es mir geschieht, daß
ich mit einer meiner Herzblumen eine solche Begegnung erlebe, bin ich bereits
schnell an der Klippe zur Liebeserklärung. So groß ist die Überraschung, es
doch einmal zu erleben. Ich zwinge mich dann zur Ruhe. Denn ich weiß, daß die
anderen die Welt anders erleben. Für sie ist es vielleicht nur ein lustiger
Nachmittag, den sie mit mir erlebt haben und es fällt ihnen weiter nichts
auf. Also vermeide ich vorschnelle Worte, die ihnen sagen würden, wie
glücklich sie mich machen. Wie schön sie sind. Wie wundervoll ihre Worte, ihr
Lachen, ihre Blicke, eine geschwinde Bewegung, eine Haltung des Kopfes. Man
wird so schnell als Verrückter angesehen, oder schlimmer noch als Bedrohung.
Ja werd ich denn das bedrohen, was ich liebe ? Da
halt ich lieber meinen Mund und |
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genieße es still, ihr Zuschauer sein zu
dürfen, der ein Stück weit mit ihnen geht. Vor einigen Monaten geriet ich nahe an
einen Traum. In die plötzliche Möglichkeit einer Liebe aus einer
Verliebtheit, die aufgrund meiner Sehnsucht große Bedeutung erlangt hatte.
Eine Bedeutung, die mich in einen wochenlangen Taumel und schließlich an den
Rand eines Abgrunds trieb. An den Rand der furchtbaren Gewöhnlichkeiten
dieses öden, abgestandenen, genervten Lebens, das es so schwer macht,
bezaubert zu sein. Ich war nahe der Entscheidung, jetzt keine Enttäuschung
meiner stillen Hoffnungen mehr hinzunehmen. Allzu schön war die Vorstellung,
dieser lauten Welt mit einem Menschen ein Schnippchen auf immer schlagen zu
können. Meine Vorsicht ließ mich zum Glück nicht ganz im Stich und so wartete
ich bang, meine Erwartungen belächelnd, was die Welt mir bringen würde. Ich
lernte die Enttäuschung überleben, bevor sie wirklich Enttäuschung wurde. Man
wartet still, und die Zeit schafft so vieles fort, indem sie es langsam zerstört.
Wie mein Zutrauen, meine zarten Empfindungen, meine behutsame Liebe in der
bangen Zeit des Wartens zerstört wurden, um mich zu retten. Heute bin ich wieder wirklich allein in
meiner Bezauberung durch die Welt. Ich lächle, denn es ist der Zustand, den
ich kenne, mit dem zu leben ich ja gelernt habe. Ein schwieriger Zustand und
doch ist es meiner, und ich darf vielleicht nicht so vermessen sein, mir
einen anderen zu erhoffen, den ich vielleicht nicht ertrüge. |
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Im leeren Haus |
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Wir kennen das Gefühl von der Stille nach
lauten Festen. Es ist die Verlassenheit, wenn die Musik vorbei ist. Hinter
dem Gebell der Menschengruppe, die schwatzend vorüberläuft, zieht es ein. Das
leere Haus, das verlassene Zimmer. Die schweigenden Wände. Der gerade
verstummte Lärm hat uns keine Antwort hinterlassen. Außer vielleicht einer,
die wir schon kannten, daß der Mensch ein Hordentier ist. Es fällt ihm wenig
ein, wenn sein Lärm, den er mit seiner Sprache macht, verklungen ist, dieser
Lärm um nichts. |
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Auf einem solchen lärmenden Fest wurde die
letzte öffentliche Ausgabe des Weltspielspiegels verteilt. Auch danach war
Schweigen. Da das Schweigen sich aber auch so
einstellt, ( ein Narr ist man auch ohne sie ), hat der Herausgeber des
Weltspielspiegels ein neues Konzept dieses Spielzeugs entworfen. Es soll nun
zum Vereinsblatt des Clubs werden, dessen einziges Mitlied er ist. |
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Mit Sorge wird in der Redaktion
festgestellt, daß die Unart der Menschen der westlichen Gesellschaft im
ausgehenden 20.Jahrhundert, einander nicht mehr zuzuhören, sondern ungeduldig
abzuwarten, bis der andere mit seinem Sprachgeräusch aufgehört hat, um
schnell selbst eines zu machen, in beängstigendem Maße zunimmt. Für den
Weltspielspiegel soll das in Zukunft heißen: wenn selbst auf solche Artikel
wie `Ach Herz' ( Weltspielspiegel
Nr.2) keinerlei Reaktion kommt, dann braucht ein Weltspielspiegel keine Leser
mehr, sondern genügt sich selbst. |
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So kann denn der Weltspielspiegel getrost
zum Krieg am persischen Golf schweigen, ebenso zur Einverleibung der fünf
neuen Bundesländer, und sich um die Themen kümmern, die nach der Meinung der
Redaktion ein Leben auf diesem Planeten noch interessant machen könnten.
Möglicherweise wird schon das hier vorliegende Heft Nr. 4 einige dieser
Themen aufzeigen. Wir wünschen es der Redaktion, denn sonst könnte sie gleich
ihren Bankrott erklären. Zitat Ende aus: Der Weltspielspiegel.
Heft 4. I.Quartal 1991 |
Das Lauschen |
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Was in der Welt des Lichts die absolute Dunkelheit ist, ist in der Welt der Geräusche die absolute Geräuschlosigkeit. Wir begegnen ihr selten, seltener als der absoluten Dunkelheit, denn ein Raum ist leichter vom Licht, als von den Geräuschen abzuschirmen. Im Freien wird die absolute Dunkelheit, die es dort nur nachts unter einer geschlossenen Wolkendecke gibt, zur absoluten Finsternis, die Geräuschlosigkeit zur großen Stille. Daß wir diesen beiden Phänomenen kaum mehr begegnen erklärt sich aus unserem Leben in dichtbesiedelten Räumen, wo Streulicht und Streugeräusch permanent den Äther füllen. In der absoluten Dunkelheit eines gegen das Licht abgeschirmten Raumes starren wir in der Dunkelheit in die Nähe. Im Freien dagegen, starren wir in der Finsternis ins Weite. Denn wie wir die Begrenztheit eines Raumes fühlen, so ahnen wir die Weite zwischen den Horizonten. Ebenso verhält sich unser Gehörsinn: im schalltoten Kunstraum horchen wir in die Nähe. Wir hören unser Blut in den Ohren sausen. Die Geräuschlosigkeit ist dumpf und dicht an unserem Ohr, als habe |
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jemand die Geräusche kurz vor unserem Ohr abgefangen. Der Gehörsinn eines Menschen in der Geräuschlosigkeit ist völlig in sich gefangen. Das ist nicht so in der großen Stille. Die große Stille, die zwischen den Horizonten zu liegen scheint oder die, wenn wir sie nachts unter freiem Himmel vernehmen, sogar wie direkt aus dem All zu einem Lauschenden dringt, ist eine Mitteilung von fern an den Gehörsinn. Der Mensch wird vom Horchenden zum Lauschenden. Die Weite erst, aus der die Stille zu kommen scheint, hat aus dem Hören und Hinhören, dem Horchen, ein Lauschen gemacht.
Wir kennen den Unterschied, wenn wir in einem stillen Zimmer eines Landhauses das Fenster öffnen. Nach wie vor ist es still. Doch ist die Stille bei geöffnetem Fenster eine andere. Sie ist von fern. Sie trägt leiseste Geräusche daher, deren wir uns nicht einmal bewußt sind, so leis sind sie. Doch wir ahnen doch die Weite dieser Stille. Nun könnte der weltinteressierte Leser denken, es gehe uns hier um die Neugier an der Welt, die uns von Hörenden zu Hinhörenden macht. Doch es geht |
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uns mehr um die Feinmechanik des Vorgangs zwischen Hören und Lauschen. Wir stellen nämlich fest, daß es dem Menschen möglich ist, in einer Weite, die er in feinen, von fern herantreibenden Geräuschen vernimmt, nicht lediglich auf seine Neugierde an den Verursachern dieser Geräusche zu reagieren, sondern solch gegenständliches Auffassen seiner Umwelt den Tieren zu überlassen und sich ganz auf den Genuß des feinen Bewußtseins von Weite zu konzentrieren. Doch was ist die Wahrnehmung von Weite, wenn man ihr die Bausteinchen nimmt, die sie uns wieder begreifbar machen ?Da sitzt also so ein Mensch, und es ist ihm weit ums Herz. Wir sagen es bereits: ums Herz, denn die Wahrnehmung von Weite, das Lauschen, ist kein Vorgang den wir so ohne weiteres verstehen und erklären können. Die Ahnung von Weite, von Raum, ist dabei eher die Wahrnehmung einer Dimension, nicht eines ausmeßbaren Koordinatensystems. Erahnt wird der Raum, nicht ein System, das ihn vorstellbar macht. Es ist schlichtweg unmöglich, den Raum oder nur die Vorstellung von |
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Raum zu beschreiben, wenn wir nicht zu
gegenständlichen Modellen greifen sollen. Es bleibt uns also nur
festzustellen, daß sich der Vorgang der reinen Wahrnehmung von Weite nicht in
unserem gegenständlichen Bewußtsein abzuspielen scheint, sondern eher in
einem Vorbewußtsein, einem Ort der Ahnungen ohne Begriffe für
Gegenständliches. Dieses Vorbewußtsein teilt sich uns verstärkt mit, wenn wir
die Weite erahnen ohne zu fragen, was sich denn, und wo, in ihr alles bewegt.
Wir gebrauchen unser Vorbewußtsein, wenn wir in die Weite lauschen ohne zu
fragen. Wir mögen es genießen oder es mag uns in der Abwesenheit von
beruhigenden Begriffen und Erklärungen erschrecken, es ist in jedem Falle
sehr menschlich, wenn wir Weite ahnen. Unsere Sehnsucht, die hinter die Horizonte
greift, kommt zu einem Gutteil von dieser Ahnung des Weiten und nicht nur von
unserem Wunsch, es möge anderswo besser sein, als wo wir sind. So wäre diese
Sehnsucht auch eine Folge unseres Vorbewußtseins und nicht nur eine Antwort
auf unsere Gier nach mehr ( Gegenständlichem ). |
Luftwaffe holt Marlene heim nach Berlin
( Schlagzeile eines Boulevardblattes ) Dieser
unverschämte Satz ist ein |
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reines Kunstwerk. ( Gemeint ist die in den
ersten Maitagen des Jahres 1992 in Paris verstorbene |
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Marlene Dietrich ). Kurz und von geradezu
genialem Gespür für die Wahrheitsbewältigung der |
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Deutschen. Kein weiterer Kommentar. |
WORTLOSE
NACHMITTAGE |
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Before I sink into the big sleep I want to hear the scream of the butterfly ( Jim
Morrison ) Oben ein lippenloser Himmel. Weit. Blick durchs
Fenster, in die leere Wohnung zurückgekehrt. Stille Wohnung, geknebelte
Geräusche von der Straße und: Wind. Wortloser Wind. Wenn Müdigkeit den
eigenen inneren Monolog zudem noch zurückhält, bleibt der Nachmittag ohne
Sprache. Ohne Worte, die sich an die Gegenstände heften könnten. Der Tisch. Schweigender Vierbeiner,
bewegungslos. Nicht mehr mein Tisch oder ihr Tisch. Ein Tisch. Tisch. Oder
nicht einmal das. Nur das Möbelstück, |
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die Form, das Holz. Der Blick stößt an ihn
ohne ein Wort und der Tisch steht fremd und schweigend. Der Blick hebt sich.
Wände, Räume, Böden. Decke oben, bewegungslos. Nur Blick sein, wortlos, ohne
Gedanken. Aus der Wohnung werden stumme, fremde Räume. Hätte ich sie niemals
betreten, sie wären doch dort. Wortloses Bewegen. Blicken. Der Blick ohne
Gedanken wird tief. Düster. Lauernd. Ungegrüßt springt er die Dinge an. Die
ihn nicht brauchen. Nicht den, dessen Blick es ist. Verlaß die Wohnung noch
einmal für kurze Zeit und kehre nach wenigen Minuten zurück und sieh dir dann
das Schweigen dieser Gegenstände an. Dann ahnst du es. Spürst den wortlosen
Nachmittag, den weiten, lippenlosen Himmel, in dem die große Zeit steht, von
der du |
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sonst nichts weißt. So wird es Abend. Die Sonne geht über den
Himmel hin. Wenn es das Wetter will, hocken Wolkenriesen in der Weite, deren
Ort du nicht bestimmen kannst. Greifen unfaßbar viele Kilometer über einen
Horizont, den du nicht siehst. Bewegen sich vorbei, ob du es nun wahrnimmst
oder nicht. Dein Blick vermag nicht, sie zu halten. Wende dich ab, geh umher,
leg dich schlafen. Es ist bedeutungslos. Sie ziehen weiter. Das Licht. Das
Licht ist ein Stoff, der über den Dächern ist und in den Fassaden spielt. Die Fensteraugen blicken groß hinein und
glitzernd schlucken sies. Das Licht berührt dich lautlos. Und nicht nur deine
Augen. Deine rastlose Bewegung webt Schatten durch das Licht, die mit dir |
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verschwinden. Es greift hinüber zu den
Antennen auf den Dächern, die darin tanzen. Vögel rudern ihre geschwinden Schläge
hinein: es flirrt, es streicht, es duckt sich unter die Wolken. Zahnlos das Dächermeer im Wind. Zwischen
Schornsteinen das klirrende Hinauf der Kirchtürme, an denen bricht das Licht
entzwei. Und schreit. Wortlos blickst du in die Panik der
Birkenblätter im Sturm und hast die Sprache verloren. Die Regenperlen auf den
Fensterscheiben singen dir ein kaltklares Lied. Nun suchst du den wamen
Schlaf, den letzten Freund am Nachmittag. Hast es gesagt und hast dabei
geschwiegen. Und in den dunklen Schlaf schlägt dich zuletzt ein leichtes
Herz. |
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An der Kreuzung
Dieffenbachstraße-Graefestraße in Berlin Kreuzberg gibt es einen
Getränkegroßhandel. Getränke, das weiß ein jeder der schon einmal den Kasten Mineralwasser
geschleppt hat, sind schwer. Nun muß ja so ein Getränkegroßhandel beliefert
werden und da sich derjenige an unserer Kreuzung aufgrund seiner niedrigen
Preise in der Bevölkerung einer gewissen Beliebtheit erfreut, muß er
besonders oft beliefert werden. Hinzu kommt, daß es sich bei der Gegend um
einen Stadtteil handelt, in dem die Arbeitslosigkeit bei etwa 30 % oder mehr
angekommen ist. Da spielt das Getränk eine ganz besondere Rolle im sozialen
Allerlei. Also fährt am Vormittag so mancher Großlaster
mit seinem dem Gewicht seiner Ware angepaßten Fahrer vor, der an dieser engen
Kreuzung der denkbar ungünstigste Verkehrsteilnehmer ist, zumal sich dort
zwei schmale, verkehrsberuhigte Straßen treffen. Seine enorme Länge und
Breite verleihen einem solchen Gefährt eine beinah unaussprechliche
Unbeweglichkeit. Da knickt das Führerhaus vor seinem Sattelschlepper seitlich
fast weg und die bis in Kopfhöhe aufragenden Jumbotjetreifen des Schleppers
werden schräg übers Pflaster geschoben, wenn es um die Kurve geht. Irgendwann
steht der Koloß dann vor dem Getränkehandel und blockiert gut und gerne
sieben der senkrecht zur Straße in |
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Parkhäfen geparkten Privatgefährte.
Aufgrund seiner Breite kann allenfalls ein Kleinwagen mit angelegten Rückspiegeln
noch an ihm vorbei. Eine Taxe schafft es schon nicht mehr. Nun haben wir zum Vormittag das Fenster
geöffnet und lauschen staunend dem Geschrei von dort unten, einer
`Konversation´ von homo sapiens vehiviculi taxi mit einem der Zulieferer. Wer
den Berliner Droschkenfahrer kennt, kann sich vorstellen, wie diese
Konversation in etwa verläuft. Nun sind die Fahrer der Zulieferlastwagen auch
nicht gerade aus dem Tanzkurs gekommen. Da kräuselt sich das Haar über der
Tätowierung auf einem baumstammdicken Bizeps, der mühelos das 50 Liter
Alu-Bierfäßchen stemmt. Dabei hat der Bierkutscher selbstverständlich auch
noch genügend Atem, seinem Gesprächspartner, dem Droschkenfahrer ( mit Kunden im Wagen, da kennen die keinen Spaß ! ) gemäß
der Art wie dieser sein Anliegen eben vorgetragen hat, zu antworten. Das
beindruckt dann sogar die Gruppe fröhlicher, heimatloser Trinker, die, ganz
praktisch denkend, über den ganzen lieben langen Tag direkt vor dem
Getränkemarkt residieren, mit Hund, Pulle, Drehtabak und Plastiktüte. Wie
eine Gruppe Pfadfinderbuben auf ihrem ersten Camp, so niedlich erscheinen die
einem angesichts der rein fachlichen Diskussion der beiden Berufsfahrer. Doch das Stück hat seinen |
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Höhepunkt noch lange nicht erreicht: Ein
zweiter Lastwagen, mit alkoholfreien Erfrischungsgetränken und damit in der
Rangordnung natürlich sogar noch unter der Droschke, ( darunter rangieren nur
noch die braunen Federal Express Lieferwagen, das Postauto und das gemeine
Normalvolk ), nähert sich dem Getränkemarkt und kommt hinter der blockierten
Taxe zum Stehen. Sein Fahrer hat bereits begonnen, die Plane aufzuwickeln,
als der Droschkenfahrer, krebsrot und kurz vor einem Amoklauf, erkannt hat,
daß der Fahrer des Bierlasters nach dem Entladen der Fässer nun noch eine
Halle voll Europaletten mit Bierdosen abzuladen gedenkt. Fluchend hat er sein
Vehikel bestiegen, um rückwärts aus der blockierten Straße in eine
Seitenstraße zu entweichen. Und rückwärts steht nun der
Erfrischungsgetränkelaster. Ein neues Duett erfüllt nun lautstark die
Straßenzüge, zwei schmetternde Barritone, einer davon bereits heißer, da er
ja schon länger auf der Bühne steht. Nachdem sich nun noch einige Fahrzeuge der
untersten Kategorie ( PKWs in privater Nutzung,
unvorstellbar, daß die Polizei so etwas nicht verbietet !) aus verschiedenen
Richtungen der Szenerie genähert haben und, kunstvoll ineinander verzahnt,
völlig bewegungsunfähig geworden sind, ist das Maß voll !!! ( die
impertinenten Blicke der Muttis auf ihren Fahrrädern mit Einkaufskorb, die
jetzt absteigen |
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müssen, interessieren niemanden, überhaupt niemanden ). Motoren heulen auf. Reifen quietschen. Das
finale furioso mit den Hupen setzt ein. Unsere Katze kommt zu mir ins Zimmer
und blickt mich sorgenvoll an. Gottseidank ist auch eine Polizeistreife in
den Fuhrpark eingekeilt und so kommt es nicht zum Handgemenge. Dieses kleine Schauspiel ist ein täglich in
Variationen aufgeführtes Programm. Allerdings gibt es nur eine Matinee.
Besonders lustig wird es an Tagen, an denen die jungen Türkenmädels
mitspielen, die an dieser Kreuzung Schülerlotsen sind: da kann ein
zwölfjähriges Ärmchen mit einer Spielzeugkelle mal eben einen 40-Tonner aus
dem Umland zur Verzweiflung bringen. Ein seltener Anblick: ein ratloses
Gesicht hinter der Frontscheibe des Führerhauses, hinter der auch das
Kennzeichen: `Hans-Peter´ steht. Hans-Peter fürchtet keine Einbahnstraße und
keine zugeparkte Einfahrt. Er fährt mit seinem Sattelschlepper in engen
Wohnstraßen furchtlos 90 km/h. Doch angesichts der tükischen Schülerlotsin
versagt seine ganze Erfahrung. Nach einer halben Stunde ist alles vorbei,
und fast schon langweilig erfüllt die normale, ruhig brausende
Vormittagsstille die Straße. Ich gebe der Katze ihr Futter und schalte den
Computer aus. Morgen habe ich noch einen freien Tag. Dann also wieder zur
Matinee ! |
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Die tektonischen Gegebenheiten unseres Planeten
erzeugen von Zeit zu Zeit auch ein Beben des Meeresbodens, hunderte,
vielleicht tausende von Metern unter der Oberfläche, ein sogenanntes
Seebeben. Ein solches Beben erzeugt Wellen an der Oberfläche, die sich mit
großer Geschwindigkeit fortsetzen, meist sind sie noch gar nicht so hoch,
einem größeren Schiff können sie in vielen Fällen nichts Ernstzunehmendes
anhaben, die Wellen gehen unter ihm durch. Ihre Gefählichkeit besteht nicht
unbedingt in ihrer Höhe, sondern in der in ihre Gestalt umgewandelten
ungeheuren Gewalt, kinetische Energie, die in eine unvorstellbar große Menge
eines schweren, aber verformbaren Stoffs übergegangen ist: in Wasser. Treffen
diese von einem Seebeben erzeugten Gewaltpackungen jedoch auf einen Strand,
so ändern sie ihr Erscheinungsbild auf dramatische Weise. Der von unten ansteigende Meeresboden
zwängt ihre Energiemenge zusammen und drückt die Wassermassen nach oben,
wohin sie sich aber wegen der Schwerkraft der Erde, die sie zurückhält, nicht
beliebig ausdehnen können. Dann gibt es nur noch eine Möglichkeit für das
Wasser, die in ihm enthaltenen Gewalten |
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zusammenzuhalten und
weiterzutransportieren: die Geschwindigkeit nach vorne. Jeder kennt den Vorgang in seiner Miniaturausgabe.
Schaut man in eine Brandung an einem Strand, der einen ansteigenden Grund
hat, hat man den Eindruck, daß die Wellen sich erst im letzten Moment noch
aufbäumen, bevor sie sich auf dem Sand brechen. Und ebendieses Aufbäumen von
Wellen an einem Strand ist jetzt in Papua Neuguinea geschehen, doch nicht in
seiner Miniaturausgabe. Die Wellen, von einem Seebeben erzeugt, sollen zehn
Meter hoch gewesen sein, die Höhe eines viergeschossigen Hauses. Beim Frühstück erreicht einen die
Nachricht. Als sie das erste Mal in den Nachrichten auftaucht, ist alles
bereits zwei Tage her, es war ja auch keine deutsche Straßenbrücke über eine
ICE Trasse dabei, man versteht das. Es wurde geschätzt, daß vielleicht 1000
Menschen ihr Leben verloren hätten. Jetzt, etwa eine knappe Woche nach der
Katastrophe, hat man bereits 1000 Tote geborgen und weitere 5000 Menschen
werden vermißt, elf Dörfer haben die Flutwellen weggerissen, haben Halbinseln
völlig überspült und alles, was sich auf deren Boden befand |
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fortgerissen, wieder hinaus ins Meer. Wir kennen solche Dörfer. Die Holzhütten,
der Sand, auf dem sie stehen. Kleine Fischerboote, die auf den Strand gezogen
werden, wenn die Fischer zurückkommen. Ihre Netze zum Trocknen auf in den
Sand gesteckte Stäbe gehängt. Aus geflochtenen Körben wird der Fang aus den
Booten gehievt. Bereits am Strand die ersten Käufer. Fische werden
ausgenommen, unwillkommener Fang weggeworfen. Die Möwen kümmern sich darum.
Die Körbe werden schließlich fortgebracht, Kinder hüpfen lachend um die Fischer
herum, es ist ein Ereignis. Hinter dem Dorf arbeiten sie in den
Maisfeldern, in den Obstplantagen. Angepflockte Ziegen, Hunde, Hühner. Ein
zerbeulter Lieferwagen bringt Getränke, die wie wertvolle Metallbarren in den
wenigen, funktionierenden Kühltruhen gehortet werden. Man ist stolz, dem
Reisenden eine eiskalte Cokedose anbieten zu können. Denn die meisten Hütten
haben keinen Strom und kein Wasser. Die Familien sind groß und haben wenig
Platz. Die Kinder rennen den ganzen Tag draußen herum, auch die ganz kleinen,
sobald sie sich eben auf den Beinen halten können. |
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Die Abende sind von einem zauberhaften
Licht und die Nächte von einer atemberaubenden Dunkelheit, wegen der wenigen
elektrischen Lichter. Einzelne Feuer schicken einen rötlichen Schein in die
Nacht hinaus. Früh wird es still. Lange vor Mitternacht schläft bereits das
ganze Dorf. Nur der Wind und die Brandung und der Mond. Und in so einer Nacht kamen die Wellen über
Papua Neuguineas Strände, überraschten die Bewohner im Schlaf, fegten ganze
Familien und deren jahrhundertealte Familiengeschichte weg, Langsam
verbreitet sich die Nachricht an den Frühstückstischen. Man ist fertig mit
dem Frühstück und muß zur Arbeit. Unter den Kollegen fällt vielleicht die
kurze Bemerkung, man sieht sich kurz in die Augen und ist entsetzt und
machtlos. Man setzt sich wieder und arbeitet weiter. Und so laufen die
Flutwellen erst hier, viele Tage später und Tausende von Kilometern entfernt,
schließlich aus, nachdem ihre ungeheure Gewalt noch den einen oder anderen
von uns leicht angestoßen hat. Und an einigen Stränden Papua Neuguineas ist
nur der Wind und die Brandung und in den Nächten der Mond geblieben. |
BAHNHOF HERMANNSTRASSE |
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Der nahezu ordinäre Umstand, daß ich mein Geld
verdienen muß, weil wohl alle in Frage kommenden Mäzene wieder auf Mallorca
in der Sonne sitzen und mich so niemals finden werden, gepaart mit der
grotesken und jedem normalen Menschen unvorstellbaren Lebenssituation, daß
ich einen Arbeitsvertrag unterschrieben habe, der mich an die Interessen der
Deutschen Lufthansa AG, Köln, bindet, führt ab und zu zu der Notwendigkeit,
daß ich morgens fröhlich meinen Frühstückstisch verlasse um hinaus zum
Berliner Flughafen Schönefeld zu fahren. Dort befindet sich in einem
phantasielosen Kontainerbau ein klitzekleines Büro, in dem ich dann zu den
normalen Bürozeiten alleine sitze, so es disponierenden, klugen Köpfen in
meiner lieben Firma recht ist. Es sind die normalen Bürozeiten, die mir
vorgeben, die kleine Reise dorthinaus ( der Flughafen Schönefeld ist von der
Berliner City weiter entfernt als z.B. der John F. Kennedy Airport von
Manhattan ! ) nicht im Auto anzutreten, wie die anderen lieben Mitbewohner
meines Teils der Erdkugel, sondern mit den öffentlichen Verkehrsmitteln.
Denen gelingt es, meine Anreise in etwa einer dreiviertel Stunde
durchzuführen, was die Planungsstabmitglieder in den Straßenbauämten der
Stadt im Grunde sofort in den Verzweiflungsselbtmord treiben müßte, denn mit
dem Wagen wäre ich von ca. einer bis gut und gerne zwei ( ! ) Stunden ( es
ist durch mahnendes Beispiel bewiesen ) dorthin unterwegs. Ich verlasse also den Frühstückstisch,
stakse die glockenturmhohen Treppen unseres fünften Stocks zum Straßenniveau
hinunter und zwänge mich nicht hinter das Lenkrad meines geplagten
Kleinwagens, sondern schlendere leichten Schritts an ihm vorbei ( ich kann richtig sehen, wie er sich
freut, heute einen freien Tag beschert zu bekommen ) und suche den UBahnhof
Schönleinstraße am Kottbusser Damm auf. Hermannplatz, |
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Boddinstraße, Leinestraße. Und dann ist es
so weit: der U- und SBahnhof Hermannstraße ist erreicht. Nun steht so eine Stadt ja voller
zweckmäßiger Bauten, die teilweise so schön sind, daß man sie preisgekrönt
hat oder daß sie unter Denkmalschutz stehen. Der Bahnhof Hermannplatz ist
nicht einmal ein Bauwerk ! Er liegt quer unter der
Straßenbrücke der Hermannstraße, und auch die ist nicht eben eine Schönheit.
Die Busse schaukeln über sie weg und bringen Schwärme armer Lohnabhängiger
aus den endlosen Häuserblocks Neuköllns, die von der Straße die
Treppenabgänge zum Bahnhof hinab drängen. Von unten her quillt der Strom der
mit der UBahn Angereisten herauf und die beiden Teilmengen der Umsteiger
durchquetschen sich auf den SBahnsteigen. Die Züge in Richtung Westend und
City schaufeln diese Bahnsteige nahezu leer. Nur ich und ein paar Vereinzelte
wollen in Richtung Südost. Ich bin jedesmal pünktlich genug da, um noch die
Abfahrt des Zuges nach Königs Wusterhausen und die des Zuges nach Bernau
mitzuerleben, bevor mein Zug nach Berlin Schönefeld einfährt. Da ist noch
Zeit für eine Zigarette und einige Blicke zu den sonnenbeschienenen Fassaden
der alten Häuser, die entlang der Bahntrasse stehen und in den hellen
Vormittagshimmel, durch den schräg die Frühmaschinen mit eingeschalteten
Landeschweinwerfern nach Berlin Tempelhof einschweben. Nein, eine Schönheit ist er nicht, dieser
Bahnhof, und doch ist er einer meiner Lieblinge. Es gibt in Berlin einige
seiner Art, das heißt, Bahnhöfe, die das UBahnnetz mit dem SBahnnetz
verbinden. Doch wenige von ihnen liegen einfach unter eine Straßenbrücke
gequetscht. Und die unbeschreiblich grauen und dabei natürlich ganz ihren
Modezeitschriften folgend knalligbunt gekleideten Menschenmassen aus dem |
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großen, öden Neukölln ergeben eine Couleur,
die vielleicht nirgendwo sonst auf diesem Planeten zu finden ist. Die dort
jeden Morgen zur Schau gestellte Massendarbietung der Geschmacklosigkeit ist
einfach nicht zu überbieten ! ( außer natürlich
vielleicht am U- und SBahnhof Neukölln selbst ). Dort steh ich also und
betrachte das Treiben, froh um die zehn Minuten, die ich zu früh hier bin für
meinen Zug. Der Bahnhof Hermannstraße ist ganz nebenbei
auch ein Verschiebebahnhof der Deutschen Bahn AG ( hier
in Berlin vormals DDR Reichsbahn, für alle nicht Ortskundigen ). Die alten
Dieselloks der DDR Reichsbahn zerren lange Züge mit Abraum und Berliner
Stadtmüll vorbei. Bei einigen von ihnen hat die Bahn ( 2000
? ) das matte, angenehme Rostrot mit dem beinah perversen, knallenden
Sterilrot der neuen Bahn AG übersprüht. Diese schweren, gemütlichen Kolosse
der Reichsbahn sind dadurch zu großen, lächerlichen Disneyworld-Loks des
neustrukturierten Zukunftsunternehmens Bahn ( hahaha ) geworden. Sie haben
all ihren Charme dadurch verloren, der ja darin bestand, daß sie
verschmierte, gußeisenschwere und lärmende Ungetüme aus den großen
Industriegebieten am Ural waren, die anscheinend jede erdenkliche Art von
Treibstoff mehr zu großen, schwarzen Rußwolken verballerten, als sie in
kinetische Energie umzuwandeln. Die Arbeiter aus dem Stahlwerk haben aber
jetzt bei einem Schnellimbiß angefangen und müssen dessen peinlich bunte
Uniform und Papierhütchen tragen. Kleinere Verschubsloks stellen Züge
zusammen. Da baumelt lässig der tätowierte, käsebleiche Unterarm eines
Junglokführers aus dem geöffneten Schiebefenster und auf den Puffern des
vordersten Güterwagens steht lässig der Kuppler mit seinem knallgelben
Neunzigerjahreschutzhelm. Die Räder knallen über fingerdicke Spalte zwischen
den Schieneneisen und quietschen |
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über viel zu enge Weichen aus der
Vorkriegszeit. Das Problem mit den ICE Radreifen ist hier kontinenteweit
entfernt. Hier kracht Metall auf Metall wie zur industriellen Revolution und
das Wort Lärmdämmung wird hier zum Begriff , den nur
naive Schwärmer im Munde führen. Ebensolche naive
Schwärmer wie jene, die die DDR Loks knallrot haben ansprühen lassen.
Kindische Narren, die noch eifrig an den Fortschritt glauben und noch immer
nicht verstehen, wo sie hier eigentlich sind. Ich schlage denen vor, einmal den Bahnhof
Hermannstraße zu besuchen. Dort stehen noch einige eingemottete
Vorkriegskesselwagen mit Speichenrädern in ihrer ganzen unscheinbaren
Schönheit auf toten Gleisen herum. Aus einer Zeit, als es noch einfach darum
ging, Menschen und Güter von einem Ort zum anderen zu bringen ( und nur dafür
existiert auch der Bahnhof Hermannstraße ! ) und nicht um kundenorientierte
Serviceprodukte, in einer Umgebung, die mehr mit dem kindischen Nacheifern
von bemannten Raumstationen zu tun hat als mit Transport, Morgen und
Menschen, die eben erst aufgestanden sind und einen langen Tag vor sich
haben. Der Bahnhof Hermannstraße hat mit solcherlei gesalbten, weltfernen
Glücksvorstellungen von einer sauberen, konfliktfreien Welt gottseidank
nichts am Hut, und gerade das macht ihn mir so lieb. Er ist einfach nur ein
unscheinbarer Bahnhof, ein Gleiskreuz wo Menschenmassen umgeladen werden, und
er erfüllt seine Aufgabe unspektakulär und frei von wichtigtuerischem,
falschem Gehabe. Seine Gleisanlagen und die abgestellten Kesselwagen erzählen
von der langen Zeit, die an ihm vorübergegangen ist und die nur matt lächeln
kann über die zehn Minuten Besinnung, die ich mir dort von Zeit zu Zeit
gönne, um ein wenig in sie zurückzuschauen. |
DIE WÖRTER |
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Um die Wörter zu verstehen, muß man zuerst
das Schweigen kennenlernen. Das Schweigen, das zwischen den Wänden eines
Zimmers steht, in das man lauschen kann. Man wirft den Stein in einen tiefen Abgrund
und hört keinen Aufschlag, nur das Schweigen. Vielleicht lernt man daran, den
Stein zu verstehen, oder aber das Wort für den fallenden Körper, der dem
Blickfeld entschwunden ist: Stein. In einem Wald gehen im leichten Wind, der
die Blätter rührt. Blick ins Lichtkonfetti und der leise Beifall von
Tausenden kleiner Hände. Daran das Wort "Blatt" gelernt. Und:
"Wind". Ohne diese Worte auszusprechen. Ohne das Licht kann man
nicht wissen, was ein Blatt ist und ohne die Blätter nicht, was der Wind ist.
Und ohne das Schweigen zwischen den Wänden gäbe es keine Worte. Wörter sind Gebilde. Aus Tönen. Aus Zunge,
Gaumen und Atem. Aus Buchstaben. Man kann in ihnen tanzen. Durch das
Schweigen und durch einen Wald. Man kann sie schleudern, |
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in einen tiefen Abgrund, und hört keinen
Aufschlag. Nur den Wind im Lichtkonfetti und den leisen Beifall. Man kann sie
sammeln, wie Blätter vom Boden. Stift, Papier, Tastatur und Buchstabe. Dann
beginnen sie ihren Faden. Ohne daß man versteht, was sie tun, und doch tun
sie es und man ist gerettet. Und weiß nicht wovor. Man wartet. Lange, ohne ein Gefühl für die
Zeit. Man sagt kein Wort und versteht plötzlich, was ein Wort ist. Das nicht
gesagt wird und doch ganz nahe ist. Nahe bei den Augen, nahe beim Atem. In einer
sachten Bewegung, einer fließenden Bewegung der Hand. Man versteht diese
Bewegung und sagt ein Wort. Geräusch im Wind, der zwischen den Stämmen
spielt. Der über die Weite daherkommt, von nirgendwo. Dahin möchte man
zurückkehren, doch man kann es nicht. Die Wörter aber können es. Sie kommen
von dort, wohin niemand zurückkehren kann. Vor der Sprache. Lautlos. Vor langer,
langer Zeit, es ist eine vage Erinnerung ohne Bilder. |
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Die Sprache, gesprochen, zerreißt die
Ahnung. Nur die Wörter finden hinter diesen Horizont. Will man sie verstehen,
so verstecken sie sich im Gesprochenen und verschleiern den Ausweg. Haben sie
erst begonnen, etwas zu bedeuten, ist das Spiel längst verloren. Doch sie sind freundlich und kommen zurück.
Nur wer sie ruft, vertreibt sie. Im Schweigen jedoch kommen sie wieder. Warme
Geschöpfe, freundliche Gebilde. Rätselhaft. Wer glaubt, sie immer verstanden
zu haben ist ein armer Narr, der an der Oberfläche zappelt. Man kann den Wörtern lauschen ohne das
Gesprochene zu verstehen. Ihre Bedeutungen sind vage im Wind verloren und
doch versteht man das einzelne Wort. Sein rastloses Hinaus, seine Bewegung
über die Welt hin, die es sich nimmt. Die es faßt, wie keine Hand etwas zu
fassen vermag. In einem Atem und einem Geräusch. Die Wörter nehmen ein Ding
und lassen es sofort wieder los, damit es weiter bestehen kann. Sie bringen |
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einem die Zeit und den Raum ins Zimmer und
halten einen darin fest. Wer die Wörter verliert, ist völlig schutzlos, in
der Kälte. Wir horchen in die Stille und die Wörter
tauchen auf aus ihrem Nirgendwo. Sie lächeln ein rätselhaftes Lächeln und
bleiben bei uns, wenn wir sie nicht fest anfassen. Wenn es uns gelingt,
geduldig zu sein, nehmen sie uns mit, in die geheimnisvollen Räume unserer
Ahnungen, die so zerbrechlich sind, und doch das Wertvollste, was wir haben.
Ohne die Wörter wären wir armselig, kröchen ziellos und aufgeregt umher, ohne
anzukommen. Ein Wort nimmt meinen Tagtraum auf und
meinen Herzschlag. Ich sage es nicht, ich will lernen, es zu verstehen. Ich
hebe den Kopf wie über eine schwarze Flut und mein Lächeln kehrt zu mir
zurück. Die Wörter kommen zu mir und erzählen mir ihre leisen Geschichten,
kleine Blumen, schlafender Sand, stille Wolke. Ich bin gerettet. Und weiß
nicht, wovor. |
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DER LÄRM DER WELT |
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Ein Montagmorgen am Schreibtisch, bei
geöffnetem Fenster, ist wie "permanent vacation" für mich. Draußen
gehen sie ihrem Geschäft nach, die Geräusche dringen durchs Fenster, an den
Hauswänden hin und her geworfen, verstärkt, verzerrt, manche auch
verschluckt. Das Werktagsmorgenkonzert, das ich liebe. Nicht das sterile
Schweigen der Sonntage, dem der gelangweilte Familienfrieden im Nacken sitzt
und das mir eine Gänsehaut macht. Da draußen findet eine Stadt statt. Und
alle machen mit. Alle, nur ich nicht. Zum Glück brauche ich an meinem freien Tag
an dem Gerenne dort unten weder teilzunehmen, noch muß ich mich schlecht
fühlen, daß ich keinen Anteil daran habe. Ich sitze ruhig über dem Lärm der
Welt, der zu mir heraufdringt, in der buddhistischen Stille der
Redaktionsräume des Weltspielspiegels, zu der die Welt keinen direkten
Zutritt hat. Hier oben erreicht mich keiner von denen, die da so lärmen. Ich
bin weit davon entfernt und denke an den Spruch der alten Chinesen: man
trinkt Tee, um den Lärm der Welt zu vergessen. Nun bin ich kein alter Chinese und blicke
nicht philosophierend über lichtdurchflutete Mandelhaine und kleine, gebogene
Holzbrückchen über Bächlein in des Kaisers Konkubinengärten, wie wir das vom
Chinarestaurant so gut |
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kennen. Ich bin mitten in Europa, wo nur
der Dollar zählt und die schnelle Mark. Wo sie alle nach dem Schnäppchen
rennen, bis sie einen Schrittmacher brauchen, damit sie überhaupt noch einen
Schritt machen können. Und in solcherlei unbuddhistischer Umgebung reicht es
nicht, Tee zu trinken um den Lärm der Welt zu vergessen. Es wäre an sich eine
ungute Sache, diesen Lärm vergessen zu wollen, denn er ist eine Tatsache, um
die sich ein Europäer im ausgehenden 20. Jahrhundert nicht herumstehlen kann.
Die Zeiten, in denen wir einfach Tee tranken und schon glücklich waren, sind
unwiderruflich verloren. Wir müssen lernen, mit dem Lärm der Welt zu leben. Viele tun es nicht und sind damit die Opfer
unseres Zeitalters. Workoholics, manisch Hysterische, zu kurz Gekommene. In
einer Zeit, in der eine so simple Tätigkeit wie Einkaufen bereits weitgehend
zu verdeckter Beschaffungskriminalität geworden ist ( wir kennen es besonders
vom Schlußverkauf, einer Art Kulturorgie, in der das Zeitalter sich selbst
feiert ), lastet ein ungeheuerlicher Leistungsdruck auf dem Individuum. Was
man da alles verpassen kann ! Was einem da alles
entgehen kann ! Wenn man nur einen kleinen Moment zu spät ist, ist schon
alles vorbei ! Erzählen sie denen mal was vom Teetrinken ! |
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Und so öffne ich mein Fenster und setz mich
an den Schreibtisch und höre dem Lärm zu. Aus dem die Welt hier besteht, mein
Jahrhundert, meine Stadt, mein Wohnviertel. Ein schöner, echter Lärm, der
sich nicht über mein Jahrhundert hinweglügt wie die toten Wohnanlagen im
Grünen, wo man durch Wegsehen und Weglaufen versucht, sich vom Lärm der Welt
zu erholen ( wenn man bloß nicht heut wieder keine Fernsehsendung verpassen
dürfen müßte ! ). Ich muß bekennen, daß ich gerne in diesem Lärm lebe, ich
will ihm möglichst nahe sein, denn wenn ich den Planeten wieder verlasse,
möchte ich schon gewußt haben, was hier eigentlich los war. Und das kann ich
nicht wissen, wenn ich den Lärm der Welt vergesse, sondern nur, wenn ich ihn
mir ansehe, aus sicherer Entfernung, eben von hier oben zum Beispiel, von
meinem Fenster. Das Lächeln des Dörflers, klar, ungetrübte
Freude, unverfälschte Offenheit. Jaja. Stellen sie ihn für eine Stunde auf die
Wilmersdorfer Straße zur Sommerschlußverkaufszeit, und da ist ihm sein
Lächeln vergangen. Und doch lächeln auch dort noch Menschen. Und dieses
Lächeln hat die ganze Unfreundlichkeit und Heftigkeit unseres Jahrhunderts
überlebt, und ich finde es deshalb viel interessanter. Dieses Lächeln kennt
den Lärm der Welt, es legt sich mitten in ihn hinein und ist dabei eine sehr,
sehr |
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menschliche Regung mitten in diesem Lärm.
Diesem Lächeln bin ich dankbar. Es ist eine enorme kulturelle, menschliche
Leistung, daß es überlebt hat. Da draußen macht also der Lärm der Welt
weiter und bald bin auch ich wieder mittendrin. Müßte ich immer mittendrin
sein, würde ich verrückt werden, dafür sind wir nicht gemacht ( das wußten
auch schon die alten Chinesen ). Man muß diesen Lärm ab und zu verlassen
können ( ich spreche n i c h t von den 3 Wochen auf
der Insel ! ), man muß mitten im Alltag ab und zu aus ihm heraus, um sich ihm
als Mensch stellen zu können, ja, um ihn ab und zu sogar genießen zu können
in all seiner aufrichtigen Schönheit. Das schöne Gezeter in der
Warteschlange, die auf wunderbare Weise gelingende Hektik eines
Freitagnachmittags, das faszinierende Strömen der Menschenmassen zu ihren
Arbeitsplätzen, immer unter Zeitnot, und der Parkplatzkrieg unten vor dem Haus. Und zuletzt wird es doch Nacht und sie
schlafen alle und haben ihren Tag bestanden. Ihr Tagwerk ist getan und die
Welt kann einen weiteren, ereignisreichen Tag verbuchen. Und der Lärm ebbt ab
und dringt in ihre Träume, bis es am nächsten Tag lärmend wieder losgeht. |
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Ich wollte etwas zum Regen sagen. Wie er in
großen Tropfen auf die Windschutzscheibe fiel, seine
großen, weich zerklatschenden Grüße, vom Scheibenwischer im Intervalltakt fortgewischt.
Ich kurbelte das Seitenfenster herunter und er strich mir über die linke
Wange. Regen, der mich ans Singen bringt. Hier, an dieser Stelle, wollte ich
etwas zu ihm sagen. Doch es gelingt mir nicht. Ich finde keine Worte. Vom geparkten Wagen zum Tabakgeschäft, zum
Lebensmittelhändler und zurück zur Haustür begleitete mich ein Feund.
Feuchtete mir die Haare und das Gesicht. Frischer Beistand nach langen
Stunden in abgestandener, ausgetrockneter Luft. Dieser Regen, mein Regen, in
jedem Atemzug, den ich tief einsauge, der mich wieder lebendig macht. Freund
über viele Jahre. Von den meisten Menschen verabscheut. Stört die Träume von
Wärme und Glück. Jetzt prallt er auf die Dachschrägen und
die Teerpappe der Flachdächer und malt sie silbern. Von unten dringen die
Geräusche herauf, in seinem Rauschfilter moduliert zu verengten Amplituden,
ein |
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Zischen untergemischt, von Nebengeräuschen
bereinigt. Ein gnädiger Himmel hat die Regler für die Höhen und die Tiefen
hochgefahren. Anders ist er nicht zu hören, als durch die Abwesenheit der
Mittelfrequenzen, denn es ist ein leichter Regen, dessen aufschlagende
Tropfen selbst nicht zu hören sind im Geräuschbrei, dem plötzlich die Tiefe
fehlt, die Dreidimensionalität. Der plan geworden ist über dem grauen Tageslicht. Sein Grau, sein klarhelles Fallen,
Streichen, Linien im Wind. Was soll ich über ihn sagen ?
Daß er meine Traurigkeit mit seiner Seelenverwandtschaft besänftigt, weil er
den Unterschied zwischen mir und der Welt aufhebt ?
Soll ich sagen, daß er der Einsamkeit einen freundlichen Raum gibt, daß er
fällt, dem Staunen über diese Einsamkeit zuliebe ?
Daß er die große Zeit zu Tönen macht, zu einer Erfahrung aus nasser Nüchternheit ? Daß er mir hilft zu ahnen, wie schön so ein
Menschendasein ist, wie klein und zerbrechlich ? Ich entdeckte meine Freundschaft zu ihm
lange bevor ich wußte, wie wertvoll sie sein |
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würde. Es war zunächst ein Spiel, ich
spielte im Regen, lachend, trotzig, kopfschüttelnd und froh. In einer Zeit vor
der nachdenklichen Ernsthaftigkeit der späten Jugend. Bevor das Dunkel über
meinen Arglosigkeiten zusammenschlug. Als ich ihn dann auf den leeren weißen
Straßen nach dem Tod der Schwester wiederfand, war das Spiel ernst geworden,
und doch von einer nicht gekannten Zärtlichkeit. Wir gingen stundenlang über
südenglische Landschaften und sangen leise Melodien, die uns allein retteten.
Aus einem bösen Land, aus einem bösen Leben, aus einem bösen Traum. Aus bösen
Erinnerungen an eine ehemals sorglose Zeit. Morgen Angst und Himmel weit, Morgenregen,
Sommerregen, Herbstregen. Regen in der Nacht, am Horizont vor einem
Sonnenloch in den Wolken. Regen über einem Parkplatz. Dünner Regen der
Ebenen, geschwinder, windiger Regen über Englands Wiesen, afrikanischer Regen,
irischer Regen. Fluchten in fremde Hauseingänge, nasse, kalte Haut in
durchtränkten Kleidern, warmer Guß in großen Tropfen und Gewitterregen auf
dem |
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Wasser, hart und kalt wie die Hagelkörner,
die er mitbringt, kein Entrinnen, keine Hilfe, nur die mitleidslose, kalte
Nässe. Ich liebe den Regen, ohne es so sagen zu
wollen. Ich kann ihm nur begegnen, auf langen Straßen und über Felder hin und
er weiß, daß er in mir einen letzten Freund hat in unserer sonnenhungrigen
Zeit. Ich folgte ihm durch Herbstwälder und nördliche Küsten entlang. Ich
hörte ihn und zog den Mantel an, um ein Stück mit ihm zu gehen. Ich sang ihm
Lieder. Ich lauschte sehnsüchtig auf seine Mitteilungen, auf Dächer
geschüttet, an Fensterscheiben geschrieben. Er wird mich nicht verlassen, ich
werde ihm wieder und wieder begegnen dürfen und er wird mein trauriges
Staunen aufnehmen und forttragen in die Jahre, die mir nichts erklären
konnten. Er wird meinen Schlaf tief und sicher machen und mein Erwachen zu
einer Frage umformulieren. Zu seiner Frage, einer lächelnden, kleinen Frage,
auf die es nie eine Antwort gibt. |
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Theater der Situationen des menschlichen
Daseins. Situationen, die jeden Menschen sein ganzes Dasein lang begleiten. Menschliche
Situationen. Die er aber deswegen nicht unbedingt zu beherrschen gelernt hat.
Wir betrachten eine davon, die Situation an der Klippe. Die menschliche
Situation an der Klippe heißt immer, daß eine tief eingreifende Veränderung
vor einem steht. Nichts wird danach so sein wie zuvor. Das Unbekannte, in das
der Mensch immer wieder schreitet. An der Klippe stehn und nicht wissen, was
einen erwartet. Mensch sein. Eine Situation an der Klippe. Eine
alltägliche, und eigentlich ganz harmlose. Die Klippe zum Schlaf. Viele
Tausend mal an dieser Klippe gestanden und über sie gegangen, um in die
Abgründe des Schlafs zu fallen. Und doch vor jedem neuen Mal nicht wissen,
was da mit einem geschieht, was einen dort jenseits der Klippe erwartet. Man kann es sich einfach machen und sagen,
daß man einschläft und dann träumt. So, wie man es Kindern erklären würde.
Die alte Geschichte erzählen, von einer der verharmlosendsten Erfindungen
unserer Kultur, dem Sandmännchen. Wir glauben aber nicht ans Sandmännchen.
Die Klippe zum Schlaf ist eine weitaus großartigere Situation als ein glattes
Einschlafen mit darauffolgendem Träumen. Es ist vielmehr eine wertvolle, ja,
nahezu gnädige Situation, in der es uns nüchternen Kindern des
20.Jahrhunderts noch vergönnt ist, das Reich der Geister kennenzulernen, die
wir eigentlich längst abgeschafft haben. In der es uns geschieht, daß wir in
die weiten, warmen Räume jenseits des Lichts hinabsteigen, in denen mitten in
der Moderne noch der Geistertanz stattfindet. Was aber geschieht hinter dieser Klippe zum
Schlaf ? Wie tauchen wir in die dunklen Räume des
Schlafes ein ? Hinter den geschlossenen Augenlidern
ist kein Schwarz. Schwarz ist der Raum zwischen den Sternen. Sehen Sie einmal
hinein. Hinter unseren geschlossenen Augenlidern geschieht etwas |
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anderes. Da ist nicht die eisige,
unerfüllte Kälte des weiten Weltenraums. Es ist eher eng dort und nahe. Und
in all dem Brausen, Flimmern und Pulsieren wird etwas vorbereitet, kündigt sich
eine Veränderung an. Während wir noch glauben, in eine Ruhe einzutauchen,
erfaßt uns schon eine neue Bewegung. Dort, hinter unseren geschlossenen Augen
und noch viel tiefer in den weitverschlungenen Gängen unseres Kopfes und des
Nervensystems unseres ganzen Körpers formieren sich die Geister der Nacht zu
ihren Tänzen. Manchmal sehen wir sie schon kurz bevor wir
wirklich eingeschlafen sind. Halbschlafträume. Visionen an der Klippe zum
Schlaf. Gute oder böse Geister, oft ist es nicht einmal zu unterscheiden.
Manchmal reißen sie uns fort, direkt in den Schlaf hinein. Manchmal
erschrecken sie vor unserer plötzlichen Ankunft und werfen uns entsetzt in
ein heftiges Aufschrecken aus einem Halbschlaf. Doch meistens halten sie sich
abwartend zurück. Sie wollen nicht mit dem Bewußtsein zusammentreffen, das
sie in unserer Wirklichkeit seit dem Zeitalter der Aufkärung so unerbittlich
ausgerottet hat. Da warten sie lieber noch eine Weile. Denn sie können sich
ihrer Sache sicher sein: früher oder später muß uns das Bewußtsein für einige
Stunden verlieren und dann gehören wir ihnen ganz allein. Im Schlaf gehören wir den Geistern der
Nacht. Gestaltlose Gesellen, denen wir niemals begegnen. Die wir allenfalls
ahnen können. Deren Tänze wir Träume nennen, weil uns nichts besseres einfällt. Weil wir ratlos bleiben, weil wir
erkennen, daß wir nichts selbst beigetragen haben zu diesem Geistertanz. Weil
wir reglos liegen, willenlos, ausgeliefert. Und sie spielen mit uns. Und wir
haben keine Möglichkeit, dieses Spiel mitzugestalten, wie wir dies in unseren
Tagträumen tun können und uns vor unserem Schlaf oft wünschen. Dabei meinen
es die Geister der Nacht immer gut mit uns. Es ist unsere bewußtseinsbetonte
Zeit, die sie verachten muß. Wir müßten es |
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nicht tun. Wir könnten sie durchaus als
unsere letzten Freunde betrachten. Sie tanzen uns ihre mehr oder weniger
wilden Tänze und flüstern uns geheime Botschaften ins schlafende Ohr. Großes
Geheimnis ! Sie singen uns ein Leben vor, das wir versäumen. Spielen uns in
wirren Szenen und ungesehenen Verkleidungen einzelne, von uns selbst erlebte
Szenen vor und beruhigen unsere Ängste damit, von denen wir vielleicht nicht
einmal etwas ahnen. Nur selten werden ihre Tänze so wild, ihre Stimmen so
schrill, daß wir schweißgebadet aufwachen, immerhin gewarnt, ernst genommen
und aus einer Katastrophe gerüttelt, die so nicht weitergehen darf. Wie
gesagt, die Geister der Nacht meinen es ja gut mit uns. Sie sammeln aus
unserer tiefsten, verborgensten Erinnerung die schlimmen Erlebnisse, die wir
selbst so gerne verdrängen und weben uns Geschichten daraus, damit wir
verstehen sollen, wer wir eigentlich sind. Das eigentliche Problem ist, daß wir in der
Wirklichkeit ihre Sprache nicht verstehen und uns die Choreographien ihrer
Tänze meist unverständlich erscheinen. Nur im Schlaf verstehen wir manchmal
den Geistertanz. Doch nach dem Erwachen, wenn unser Bewußtsein einsetzt mit
seinen kausalen Ketten und seiner Vernunft, haben wir den Sinn des
Geistertanzes vergessen. Dann denken wir, daß wir einen großen Blödsinn
geträumt haben. Selbst wenn wir uns noch genau erinnern, daß wir im Schlaf
alles genau verstanden haben, daß uns völlig klar war, was uns da erzählt
wurde. Wir erreichen die Klippe zum Erwachen,
treiben an die Oberfläche, und die letzten Pirouetten der Tänzer der Nacht
erreichen beinahe das Licht und den Moment, in dem wir die Augen öffnen. Wir
wollen noch bleiben und die Tänze noch sehen, die noch angekündigt waren. Wir
versuchen, zurückzusinken zu den freundlich bizzarren Stimmen, zu den unnennbaren
Farben, die unsere Augen nicht kennen. Es ist, wie wenn man uns aus einer
Vorstellung holt, durch die schweren Türen des |
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Zuschauerraums nach draußen gerufen, ins
Licht und in den Lärm. Drinnen geht ohne uns die Vorstellung weiter, wir
ahnen es und sind doch schon fort und in einer anderen Sphäre. Wir vergessen,
was drin gesagt wurde, erinnern uns nur an Bruchstücke des ganzen Reigens und
müssen fort, in einen schweren Tag. Manchmal, wenn man uns nach dem Erwachen
Zeit läßt, bleibt uns die unnennbare Rätselhaftigkeit der Gesellen der Nacht
noch für einige Minuten. Sie haben uns aus unserem zerrissenen Dasein
erzählt, von lang vergessenen Personen, die wir einmal liebten, von scheinbar
unbedeutenden Gegebenheiten, von unserem Neid, unserer Schuld und unserem
Ärger. Sie haben uns aber auch in Gegenden geführt, die wir noch nie gesehen
haben, haben uns beschenkt, wie wir nie beschenkt werden und wir erinnern uns
matt, daß wir sogar mitgetanzt haben, daß wir leicht waren oder schwer, aber
doch von einem Gewicht, das wir nicht kannten. Wir waren wir selbst und doch
ganz andere, wir konnten Dinge, die wir eigentlich nicht können und andere,
uns normalerweise selbstverständliche Dinge waren uns plötzlich unmöglich.
Wir fielen in Abgründe, wir mordeten, wir fanden uns in peinlichen
Situationen bloßgestellt, wir waren gute Geschöpfe, wir waren auf einer
panischen Flucht und wissen nicht mehr wovor, man hat uns belogen,
aufgelauert, und plötzlich durften wir alles, was wir noch nie durften und
fanden einen langgesuchten Frieden und nie getroffene Weggefährten. Wir sitzen schläfrig am Frühstückstisch und
haben etwas verloren. Gleich müssen wir los, weiter, gleich beginnt der Tag,
der gute, wirkliche Tag, der uns am Leben weiß, inmitten der Welt, an der wir
teilhaben. In einer schnellen, rätselhaften Welt, die wir gewohnt sind, die
wir mit links erledigen, meisterhaft, kleine Künstler sind wir, Künstler des
Alltags, frech, geschwind und pfiffig. Und haben doch um ein weiteres mal den
Geistertanz verloren, der es so gut mit uns meint. |
DER
RÄUBER IM GESTRÜPP DER ANDEREN
Was hast du getan ?
Augen sehen dich an, deren Blick dich trotzdem nicht trifft. Der an deiner
Außenseite abprallt. Eine tiefenlose Stimme reiht Worte vor dir auf, die ein
Fadengewirr an Bedeutungen vor dich stellen. Worte, die dich zu nennen
scheinen und dich doch nicht nennen. Man hat dich gesehen. Man hat deine
Worte gehört. Doch du erkennst dich nicht wieder in dem Gestrüpp, das sich da
vor dir auftut. Du versuchst, in dieses Gestrüpp hineinzusehen, das der
andere da um dich herum beschwört. Es gelingt dir kaum. Du erkennst
Einzelheiten, doch du erkenst kein Zusammenspiel. Du erkennst soviel, als daß du jemand in
diesem Gestrüpp zu sein scheinst. Man sprich ja von dir, nennt deinen Namen.
Redet von deinem Verhalten, das man auch bereits gedeutet hat. Deutung, die
du nicht verstehst. Du bleibst stehen, setzt keinen Fuß in dieses Gestrüpp,
kein Wort. Nur deine Ohren folgen in das Unterholz hinein und verlieren sich
darin. Bis du völlig die Orientierung verloren hast. |
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Irgendwann bist du tief drin, im Gestrüpp
des anderen. Manchmal hebst du den Kopf, um über dies
alles hinwegzusehen. Es gelingt dir ab und zu, deine Position zu erkennen.
Und du läßt dich wieder zurücksinken, denn du hast gesehen, wie tief du in
dem Gewirr bist, weit, weit vom offenen Feld entfernt. Was sollst du tun ? Du versuchst ruhig zu bleiben, keine Panik ! Es geschieht dir ja nichts. Du kannst sogar ein
wenig im Dickicht umhergehen. Du kannst es erkunden. Du beginnst vorsichtig,
deine Beobachtungen zu machen. Während man dich tiefer und tiefer in das
Gestrüpp verwickelt, bis du schon dabei, dir deine Beute zu holen. Du
schleichst unbemerkt im Dickicht des anderen umher, das dich nicht greifen
kann. Es ist zu fremd. Es streckt keine Hand nach dir aus. Du sollst nur
darin sein, soviel kannst du sehen. Die
Situation macht dich zu einem stummen Raubtier. Man hat auf deine Einwände
nicht |
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gehört. Dein Standpunkt wurde verworfen, er
stört das Dickicht. Das wächst. Unaufhörlich. Auf dessen Aufbau du keinen
Einfluß hast, du erkennst es mit einem bitteren Lächeln. Ja, du mußt wohl ein
Räuber sein, du hörst abenteuerliche Einschätzungen deiner Person, die dich
nur noch zum Lachen bringen können. Ein stilles, mienenloses Lachen, das du
nicht zeigst, es würde doch nur mißverstanden werden. Also streifst du
wortlos in dem Dickicht umher, das da um dich wächst. Schaust dich im
Gestrüpp um und suchst nach einem Wort, einer Formulierung, einem Gedanken,
den du noch greifen kannst und der dir bleiben wird. Der andere da vor dir
läßt ungeheure Bilder entstehen, schlägt abenteuerliche Brücken, zieht
schwindelnde Rückschlüsse. Du hast ihn längst verloren. Sein Gestrüpp bildet
überraschende Zusammenhänge, die sich türmen, die nach deinen Fußgelenken
greifen, über die du stolpern sollst. Warum sollst
du stolpern ? Was soll dich zu Fall bringen ? Was hast du getan ? |
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Du findest es nicht heraus. Es sind auch nicht die richtigen Fragen. Du
hebst den Kopf und bemerkst, daß der andere verschwunden ist. Das Dickicht,
das er um dich angelegt hat, ist undurchdringlich geworden, der andere ist
dahinter zurückgeblieben, du kannst nicht einmal mehr die Richtung ausmachen,. in der er sein muß. Du bist allein im Gestrüpp des
anderen, darin allein gelassen. Er wollte nichts von dir, er wollte dieses
Dickicht. Seine Anwesenheit ist längst hinter seine Worte zurückgetreten,
übrig bleiben die wirren Verknüpfungen, die unerhörten Behauptungen, die
falschen Rückschlüsse. Die das Dickicht sind, in dem du gehst. Du brauchst
dir keine weiteren Fragen mehr zu stellen. Du bist eben in einem Dickicht,
und das genügt dir. Dein Schweigen ist längst keine Antwort mehr. Es ist Teil
deiner neuen Rolle geworden, der Rolle des Räubers, des stillen Bösen, der
sich unbemerkt seine Beute holt aus dem Gestrüpp der anderen. |
ÜBER ALLES HIN |
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Da rennt man seine Strecke ab, pünktlich, aber
immer am Limit, gerade noch geschafft. Wenig freie Minuten passen in so einen
Tagesablauf, das Stehen und Schauen ist zum Luxus geworden, den man sich kaum
leisten kann, dabei ist man, sieht man es sich mal ganz nüchtern an, reich.
Was da alles in der Wohnung steht, sich in den Regalen quetscht, dann das
Auto auf der Straße unten..., was das alles gekostet hat !
Fragen sie mal jemandem, dem die Wohung ausgebrannt ist, was da alles so
zusammenkommt. Ein Redakteur des Weltspielspiegels ist
kürzlich mit einem Extrem der Wohlstandsgesellschaft in Berührung gekommen:
er ist Porsche gefahren. Da flitzt die Welt, über die man im Alltag sowieso
schon abhebt, in einer ganz neuen Dimension von |
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Geschwindigkeit an einem vorbei. So als
gehöre man schon gar nicht mehr dazu, rasen Häuser, Menschen, Brücken, andere
Autos an einem vorüber. Man schaut, von einer Anhöhe kommend, auf ein Land
über das man hinfegt, ohne es noch zu berühren. Entfernungen werden zu einem
matten Abwinken mit der Hand, Steigungen gibt es nur noch als Neigungswinkel
der Kühlerhaube. Man ist schockiert, aufgeregt, wie beim ersten Mal
Achterbahn auf der Kirmes, und steigt aus wie aus der Raumkapsel, die einen
wunderbarerweise doch zurück gebracht hat. Und mitten in all dem Glitzertheater des abgehobenen
Wohlstands tauchte plötzlich eine Fee auf. Haben Sie einmal ein Bild von
Claudia Schiffers kleiner Schwester gesehen ? Ihr
sah diese Fee zum Verwechseln |
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ähnlich. Es war eine Blätterfee, wie es sie
nur zur Herbstzeit gibt. Sie sammelte Herbstblätter, legte sie unserem
Redakteur vor, und die beiden betrachteten die Farben und Muster, die
zerbrechlichen Linien. Da atmet man auf und das Herz schlägt wieder ruhiger,
das auf dem Porschebeifahrersitz manchmal seine Frequenz etwas erhöhen mußte.
Und die schmalen Hochgeschwindigkeitslippen werden wieder voll und formen ein
zärtliches Lächeln. Die Fee lacht, quietscht vergnügt und erzählt
unbekümmert. Céline heißt diese kleine Fee, sie ist
sechs Jahre alt und möchte unseren Redakteur gerne heiraten. Und weil es das
im Feenland gibt, sieht unser Redakteur über alles was für ihn Geltung hat
hinweg und weiß schon, wie er es macht: man wird den Porsche des Feenpapas |
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verkaufen und vom Erlös ein Wäldchen erstehen.
Dann kann man immer Blätter sammeln und betrachten. Das ist der Plan. Wir hören unserem Redakteur kopfschüttelnd
zu, man weiß nicht, spinnt der jetzt ? Doch seine
Begegnung mit der kleinen Fee hat immerhin dazu geführt, daß ein Lächeln in
unsere Redaktionsräume Einzug gehalten hat, dem wir mit unserer ganzen
journalistischen Pfiffigkeit nicht beikommen. Der Mann hat da etwas erlebt.
Soweit wir verstanden haben, hat es mit einem Porsche, mit Wohlstand und mit
einer kleinen Fee zu tun. Wenn wir näher nachfragen, lächelt er nur und sagt,
daß er, zumal in billigen Allgemeinplätzen, das Ganze nicht erklären will,
und daß es das Lächeln dieser kleinen Fee ist, das ihm über alles das hin
bleibt, was er gesehen hat. |
SONNE, DÄCHER, MARMELADE
Geben wir es ruhig zu: wer ist man schon ! Man hat Einige beieindrucken können, doch
diejenigen, die einen besser kennen, sind schon nicht mehr so beeindruckt.
Hat man Glück, so mögen sie einen wenigstens, aber da muß man dann schon
Glück haben. Mögen sie einen nur, weil sie in irgendeiner Form von einem
abhängig sind, so ist man schon wieder nur ein armer Tropf. Das macht ja den Moment so interessant,
wenn alte Bande zerrissen werden, alte Beziehungsmuster aufgeknöpft und
Absprachen gekündigt werden: wer einen mochte, der bleibt einem. Die anderen
verschwinden im Gestrüpp des Beindruckungs-Wettbewerbs. Hihihi. Gut. Das wissen wir jetzt also und
schauen friedlich über die Sonne auf den Dächern und |
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denken an Marmelade. Die Marmelade ist einem
geblieben und die Sonne auf Dächern wird immer wiederkehren. Lachen Sie nicht ! So banal ist das ja gar nicht. Was bleibt einem
denn? Das meiste verschwindet einem gegen den eigenen Willen im Werteallerlei
unserer Zeit, man hat es abgehakt und das Interesse verloren. Nur an manche
Wahrheiten glaubt man hartnäckig und ist besonders böse, wenn sie einem dann
endlich zu Recht ausgetrieben werden. Weil man eben schon so wenig hat, auf
das man sich noch verlassen kann. Drüben steht die Birke und ihre Blätter
flirren im Licht. Das ist schön und gut so und wird es bleiben. Und die
stille Zärtlichkeit, die in der Sonne auf Dächern mitklingt, wird man
anderswo lange suchen müssen. |
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Wann hatten Sie das letzte Mal den
Eindruck, daß ein Mensch ihnen solche Zärtlichkeit hat widerfahren lassen,
wie sie im Sonnenlicht auf den Dächern zu spüren ist ?
Seien Sie mal ehrlich! Und ist es nicht die innere Stille, die
einen immer am meisten beruhigt hat und nicht etwa der zweifelhafte Beifall der
anderen, der nach so kurzer Zeit ganz überraschend umschlagen kann ? Da sitzt man und denkt darüber nach, auf was man
sich denn verlassen kann und wie man die innere Ruhe findet. Wichtig scheint
sie ja zu sein, denn sonst würden nicht so viele kommerzielle Helferlein ihre
vielen verschiedenartigen Programme anbieten können, die diese innere Ruhe
erlangen sollen. Und klar doch, wir sind ja gewohnt alles zu kaufen, was |
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uns gut vorkommt, wir armen Tröpfe in
unserer unselbständigen Zeit. Alles muß uns geboten werden, was können wir
denn noch selbst ? Ja: was ? Es bleibt eine bange
Frage und eine vorsichtige Antwort ist hier ja schon formuliert. Denken Sie
nur an die Sonne auf den Dächern und an die Marmelade. Und an die, die ihnen
geblieben sind, nachdem eine Absprache mit ihnen gekündigt, irgend ein Band mit ihnen zerrissen oder eine Beziehung zu
ihnen beendet worden ist. Die sie nicht weiter beeindrucken mußten und doch
sind es Freunde geblieben. Darüber denken wir nach, hier, in der Sonne, die
auf die Dächer scheint und die Blätter der Birke flirren läßt. Und es wird
uns ganz warm ums Herz und still in der Seele. |
ACH, DIESES GRAU |
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Der grippale Infekt eitert durch die
Nebenhöhlen unseres Kopfes und erinnert uns daran, daß wir aus Zellen
bestehen, ein riesiges Gewabbere aus Biologie, Säften, Nervenverbindungen,
Viren, Freßzellen, Körperchen, die disorientiert herumschwimmen und machen
was sie wollen. Man wacht eines morgens auf und hat
Kopfweh. Hinter den Augen sitzt ein Teufelchen und hämmert gutgelaunt gegen
den Augennerv, jawohl, es ist seine Zeit und aus diesem Tag, ätsch, wird nix ! Wir sitzen am Fenster und wissen nicht so
recht, ob uns die Gelenke oder die Knochen mehr weh tun,
oder ob sie, mal genau hingefühlt, überhaupt weh tun. Schmerz ist eigentlich
etwas Eindeutigeres als das, was da mit uns angestellt wird, und wären wir
klar im Kopf, ja dann könnten wir es feststellen, aber im Kopf quibbert das
Fieber und leuchtet glänzend aus unseren Augen. |
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Klar, jetzt täte uns Ruhe gut, etwas Sonne
und Wärme vielleicht. Der grippale Infekt tut uns aber selten den Gefallen,
im Juni aufzutreten, und so sehen wir in das ewige oktoberliche Grau hinaus,
das vorbildlich mit unserem grippalen Infekt kooperiert, ja, Geschäftsfreunde
sind sie sozusagen, jeder hilft dem anderen ein wenig auf die Sprünge, sie
haben das Monopol, da kann sich der Kunde nun ärgern, ham wer nich, jibts
nich, müssen Se woanders kiecken. Woanders können wir uns, zumal krank, nun
aber genau nicht umsehen, wir starren ins Grau und ergeben uns in unsere
Rolle, angeschissen zu sein. Wir erinnern uns: da gab es ein anderes Leben,
mit Farben, und so, mit Lichtbahnen am Himmel, Konturen, da gab es eine
Dreidimensionalität, frohe Empfindungen und schnelle Gedanken im Kopf. Das
ist dahin. Das Teufelchen hinter |
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den Augen grinst sich eins und hämmert froh
weiter. Und doch beginnen wir nach einer Zeit,
diesen Ausnahmezustand zu mögen. Eine Auszeit, eine Pause, niemandem entgegentreten
müssen und sich voll seiner wehen Biologie widmen zu können. Und wir werfen
hinterlistig die kleinen bunten Dragees ein, die das Teufelchen bei seinem
Gehämmere ans Fluchen bringen. Weil wir es gar nicht mehr so spüren. Auch
ätsch. Und das Grau ? Ja, das liebe Grau ist im Grunde eine perfekt schöne
Farbe, um das Ambiente für unseren Zustand zu adeln. Alles hilft mit, und
unser grippaler Infekt wird eine hinreißende Inszenierung. Au weh, au weh
singen wir, der vollen Tragweite unserer Tragödie bewußt, die Arie des armen,
krankheitsgeschüttelten Arbeitnehmers. Langen zum Telefon und melden uns
krank. Wieder ätsch. |
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Der fiebrige Blick ins Grau wird freundlich
und fragt, ob es uns von allein denn gelungen wäre, einen so außergewöhnlichen
Zustand herbeizuführen. Alles kalt, naß, fiebrig, weh, aber eben auch ruhig,
und allein bei der wunderbaren Erfahrung des eigenen Zellhaufens, der wir so
sind. Das Teufelchen hat schon den Hammer fallenlassen, wir grinsen breit und
schneuzen uns etwas unbeholfen. Ach, Schleimerei und Berg von verbrauchten
Taschentüchern, die überall herumliegen und uns zeigen, wie hilflos wir sind.
Wir kriechen in der Wohnung umher, legen uns zum Dösen ( an
Schlaf ist nicht zu denken, klar ) hin und erleben die Zeit des Tages, wie
wir sie sonst nie erleben. Grau, still, ereignislos und ohne Ende, das aber
dann doch irgendwann kommt, so plötzlich, daß wir es wahrscheinlich
verschlafen. |
ALLER ANFANG
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Es gab Aufbrüche, da war es einem wurscht wohin es gehen würde, so voller Elan drängte alles vorwärts, und oft erinnern wir uns heute ja auch tatsächlich nicht mehr daran, wohin es denn gehen sollte. Es war alles enorm wichtig, soweit erinnern wir uns, da gab es ein verheißungsvolles Anderswo, und genau da wollten wir hin. Unruhe trieb uns voran und es konnte nicht schnell genug gehen und es war nicht daran zu denken, den Aufbruch aufzuschieben.
Nun ja. Die Unruhe ist uns zumindest geblieben. Sie stellt sich seltener ein und nicht mehr so heftig, gewiß. Doch wenn wir wochenlang wieder nur unserer lieben Brotarbeit nachgegangen sind steigt wie leiser Rauch die Unruhe in uns auf. Wir ignorieren sie ratlos, bis sie in unsere Träume gerät und uns ans schlechte Gewissen bringt. Ja, wir wußten es schon seit einer Weile, daß wir irgend einen Aufbruch formulieren, beschließen, durchführen müßten, egal wie wir´s nennen, wir müssen los. Wenn es uns nur noch so unbeschwert gelänge, an irgend einer Richtung völlig unvoreingenommen Interesse zu empfinden.
Vielleicht hätten wir es als Gehende leichter, als welche mit einem Ziel vor Augen und einem |
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Plan in der Tasche. Doch sind wir ehrlich: das haben wir nicht mehr. Wir haben eigentlich nichts mehr zu erledigen, für die großen Aufgaben sind wir ohnehin zu blöd und für andere schöne Aufgaben gibt uns keiner eine müde Mark und unser Vermieter will natürlich sein Geld. Trotzdem sollen wir also nun irgendwohin aufbrechen, die innere Unruhe sagt es uns, wir schauen uns fragend um, doch da bietet sich nichts an. Also bleibt uns wie bei so vielem wirklich Entscheidenden im Leben die Lösung dieses Rätsels wieder ganz alleine überlassen. Ohne Hilfe stehn wir, da hilft kein Fernsehen, keine Zeitung, kein Werbespot. Was, zur Hölle, sollen wir tun ? Zumal wir wissen, daß wir es wie immer ganz alleine tun werden und es keine Maus hinter dem Ofen hervorlocken wird, was wir da unternehmen. Ganz so naiv sind wir nun wirklich nicht mehr.
Und deshalb gelingt es uns auch nicht, irgendeinen Sinn in unser Tun hinein zu interpretieren. Wir wissen ja längst, daß es auch ohne uns sowieso ganz anders kommt, daß es doch recht zweifelhaft bleibt, was der Mensch so erreicht hat, ja, daß doch die meisten heut nur noch irgendwie ihr Schäfchen ins Trockene bringen, ohne an viel zu glauben bei all dem, was da |
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so um sie herum vorgeht
Unter den Redakteuren des Weltspielspiegels entsteht sie auch, diese Unruhe zum Winternende hin, diese vage Aufbruchsstimmung. Der eine oder andere hebt den Kopf und schaut zum Fenster hinaus, und uns fällt auf, daß das schon ein recht guter Anfang ist. Der Mensch folgt seinem Blick, mehr als seinem Verstand, mehr als seiner Bequemlichkeit. Und so haben wir schon ein Vorhaben definiert: das Schauen. Müde sind unsere Augen geworden im grauen Winter, viel in Räumen von Wand zu Wand geblickt im gelben Licht der Glühbirnen, das so recht keine Farben aus den Dingen ruft. Wir recken uns und vertreiben den Winterschlaf, den unsere Spezies eher als eine Winterlaschheit kennt. Wir wagen uns heraus, noch etwas beklommen und ungelenk. Fragen wir nicht nach Richtungen und Zielen, sonst rollen wir uns nur gleich wieder zum Winterschlaf zusammen. Wir sind entschieden zu alt, um „unternehmungslustig“ zu sein, machen wir uns nicht zum Trottel. Bitte !
So nach und nach gelingt es uns, in die Unruhe etwas gute Laune einzumischen. So ganz sachte. Eilig haben wir es nämlich nicht mehr, die Geschwindigkeit ist |
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etwas, das die emsige Betriebsamkeit da draußen schon genug produziert, und eins ist klar : auf dieses Narrenkarussell aufspringen werden wir nicht, wir werden unseren eigenen Aufbruch machen. Wir können uns Zeit lassen, uns ist schon so viel durch die Lappen gegangen, daß wir uns nicht mehr davor fürchten müssen, es könnte wieder geschehen. Wir wissen längst, daß wir niemanden zu beindrucken haben. Wir reagieren nur auf diese Unruhe, diese leise, vorsichtige Unruhe, die uns von neuem befallen hat und die das immer und immer wieder tun wird. Sie wird uns weiter vorantreiben, wenn auch gemächlicher als früher und uns zu neuen Aufbrüchen anstacheln. Wir erinnern uns nicht einmal mehr an alle die Anfänge, die wir gemacht haben, wir erinnern uns nur, daß es viele waren. Und dieser wird wie sie alle sein, nur eben wieder etwas träger und ungefährer. Das machen die Jahre und die Erinnerungen an schwere, ergebnislose Anfänge, die wir hinter uns gebracht haben. Und doch ist alles wie es immer war. Es geht weiter, der Winter ist vorüber und wir heben den Blick. Wir orientieren uns neu, konstatieren, was verloren ist und was uns blieb, schütteln das Vergangene ab und brechen auf in ein neues Jahr.
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THE SPELL OF THE MUSIC
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Ein Tisch am Rand eines Meeres, Ballet des Mitternachtsregens, das an die Fensterscheibe gefriert in einer Winternacht, Wind von regnerischen Küsten, dessen Botschaft in den Bäumen entlang der Straße weint, die einer hinuntergeht, geschwind, eilig, und der nur kurz überrascht aufhorcht in diese Mitteilung aus einer anderen Zeit. Blätter, die einen herbstlichen Gehweg hinunterwehen, auf dem einmal einer stand und seine Lieder für die Passanten sang. Gebrochene Blumen auf einem Gartenpfad, Morgenlicht in erloschenen Augen, ein Lächeln, wie für die vielen verlorenen und gewonnenen Jahre, Erinnerungen an Photographien an den kalten Wänden eines Zimmers, in dem nie zwei gewohnt haben. Einen Brief in der Hand halten, einen Brief von weit her, auf den keine Antwort mehr möglich ist.
Schöne Worte, die verklingen und es bleiben einem die Eisblumen an den Füßen der Frostprinzessin eines Winters. Zerstreute Bilderbuchseiten, Fensterflügel, die offen stehen, ein sich entfernender Zug in der |
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Morgensonne.
Tote Blätter an einem Nebeltag, nie gesandte Briefe und erinnerte Gesichter. Morgenangst und Himmel weit, die Stimmen der Engel, die das Urteil verkünden. Sterbendes Jahr, neues Jahr, und wieder ein Abschied, Blick durchs Fenster, man wußte es immer schon und es kam wieder so. Man hat keine Tränen mehr, die Jahre werden es fortwischen. Das Lächeln allein, wenn man an die Lieben denkt, an die verlorenen Träume. Immer wieder aus dem Zuhause getrieben, keine Ruhe gefunden, keine Zuversicht, das Los eines jeden : man wird nicht gebraucht.
Die Sehnsucht läßt sich nicht auf eine Mauer schmieren, sie wird nur von Melodien getragen, die verwehn. Doch sie läßt auch das Herz schlagen, das schlägt und schlägt, pausenlos, weil es muß. Man wirft den Zaubermantel, öffnet die Augen in die Zeit, sammelt Geschenke aus den Momenten, Licht und Geheimnis, weicht direkten Fragen aus, was wollen die dort draußen von einem ? Man tanzt das Spiel |
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durch die Welt, man singt, es kümmert einen längst nicht mehr, ob sie es verstehen. Und die Stimme wird Gebet, hingerissen, Atmen sein der klingt, Strom der fließt, endlos, ohne nach seinen Richtungen zu fragen. Lange ist es her, lange, und nun ist es vorbei. Die Stimme hat sich das Schöne ersungen, das einem die Gedanken nicht erobern konnten.
Man hat es alles eingefangen, den Tod, der in der ersten Reihe sitzt und lächelnd zuhört, da er weiß, daß zuletzt alles ihm gehören wird; den Lebensreigen der Liebenden, Prinz und Prinzessin mit den leichten Schritten des Anfangs einer Liebe; die Feen die wissen, daß es keine Zeit für Liebeslieder ist und die den Finger vor die Lippen heben; sogar den Zauber der Musik selbst, der einem zuletzt geblieben ist.
Lange Jahre vergehen in Schweigen bevor man sich zuletzt wieder an die Musik wendet. Selten spricht man die Wahrheit über seine Gefühle in diesen Tagen. Doch die Lieder singen sie leicht und offenherzig. In |
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Augen sah man längst verlorene Wahrheiten, doch zuletzt bleiben alle nur die Figuren eines einsamen Spiels, in das sie nicht eintreten werden.
Man sagt seine Lügen hin, um sich nicht ausliefern zu müssen, man verbannt die Wahrheit in Tagträume und einsame Tränen. Man öffnet sein Herz nicht mehr leichtfertig.
Man hat nur noch die Musik. Ein kleiner Junge am Meer versteckt seine Tränen und das Licht stirbt an den Schatten. Es gibt keine Feen mehr.
Und es wird nie mehr dasselbe Gefühl sein, zu lieben, auch wenn der nächtliche Sommerregen weiß, daß man nicht mehr fortgehen wird, doch die Zärtlichkeit stirbt langsam in einem hin und die Liebe, die einem einst gehörte wird weggelegt auf ein Regal.
Was bleibt, ist der Zauber der Musik. |
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Die Frage nach dem Sein und dem Schein hat die Philosophie und die Gemüter vor und nach der Aufklärung eingehend beschäftigt. Die Frage, ob es sich nun um die Wirklichkeit oder nur um einen Anschein handle, was wir so alles unter Welt verstehen hat kluge Köpfe jahrelang beschäftigt und hunderte von Seiten in Büchern gefüllt. Nun, wir haben es da, wie in so vielem, heute einfacher. Wir haben die virtuellen Welten im Internet. Da fragt keiner mehr nach dieser alten Gretchenfrage vom Schein, denn schon der Name spricht es ja ganz gelassen aus : virtual reality ist es eben, scheinbare Wirklichkeit. Nur um des bloßen Scheins willen hängen wir stundenlang vor den Monitoren, was die letzten Aufrechten in unserer Zeit so empört, gehen unserer Neugier nach, nicht so sehr nach Wirklichkeit als eher nach unserem Bedürfnis, zu fantasieren, zu spielen, uns zu bewegen, eben nur scheinbar zu bewegen, während der Speckgürtel um unseren Bauch vor dem Monitor bestens gedeiht ( der der letzten Aufrechten gedeiht vor dem Fernseher oder sonstwo ).
Da jammern unsere Lieder von der CD, die im Rechner abgespielt wird, durch die Redaktion des Musikverlags im HSE Verlag während wir dies schreiben. Jahrelang haben wir Lieder geschrieben, aufgenommen, in der Schublade verstauben lassen. Jetzt bieten wir sie im Internet an in unserer neuen Spielwiese. Scheinbare Spielwiese, denn sie ist ja nirgendwo und auch unsere CD kann draußen, in der wirklichen Kommerzwelt, keiner koofen ( ebensowenig wie die der letzten Aufrechten übrigens ). Ja, wir erinnern uns, da war die Vorstellung in jungen Jahren, von der Musik zu leben, Musiker zu sein, Vorstellung eben, Schein. In Wirklichkeit sind wir hingegangen und haben unsere wirkliche Arbeitskraft verhökert ( wie die letzen Aufrechten |
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wiederum ), unerkannt, im Verborgenen, gut, da waren wir ein Musikunternehemen, aber eben nur in einem Traum, einer scheinhaften Wirklichkeit, irgendwo zwischen Frühdienst und Überstunde.
Der Mensch braucht ja auch die Vorstellung einer besseren Welt, als der öden wirklichen Welt da draußen. Braucht seine Scheinwelten, hat sie sich immer zurechtgeglaubt, so sehr, daß die Erkenntnis der Wirklichkeit in teilweise beängstigender Weise verlorenging, man denke einmal an die selbstkasteienden Pilgerhorden des Mittelalters auf dem Weg ins gelobte Jenseits. Das Stellen der ernüchternden Frage, was denn nun aber wirklich zum Menschenleben gehöre und was nur Schein sei, war da sicher von tragender Bedeutung für das Lebensglück der Menschen ( und gerade das der letzten Aufrechten, weiß Gott ! ), das ist unbestritten. Und gottseidank, oder besser : gottzumtrotz, wurde sie ja auch gestellt und hat uns z.B. von irrgläubiger Gottesfürchtigkeit errettet für alle Zeiten.
Und doch : hartnäckig glaubt der Mensch an seine Scheinwelten, ob es nun der Glaube an die scheinbare materielle Sicherheit des Kapitalismus ist oder der Glaube an die einzig richtige, rettende Ernährung. Da wird viel Scheiß ( Verzeihung ) zusammengeglaubt und ab und zu täte da auch wieder etwas Ernüchterung gut. Und nun ist mitten in unsere aus den Nähten platzende Zeit auch noch die virtuelle Wirklichkeit des Internets geboren worden. Das ist nun so eine wunderbare Einrichtung, daß sie dem Irrglauben an die Welt des Scheins alle Türen und Tore öffnet, durch die die großen Toren unseres Jahrhunderts sicherlich auch unbedenklich strömen werden, mit voller Kraft unterwegs, die Frage nach der Wirklichkeit zu vergessen und
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völlig in den zweifelhaften Gängen des Internets und seiner Scheinwelt verloren zu gehen.
Ja, was soll man da machen ?! Idioten hat es immer gegeben, und wenn einer in der virtuellen Wirklichkeit nicht mehr weiß, daß er sich hier nur in einer Scheinwelt bewegt, dem ist eh nicht mehr zu helfen. Doch der wäre sicherlich auch nicht in der Lage zu begreifen, daß sein Fußballverein nicht die Welt ist, oder sein blödes Eigenheim im Todesgürtel der Straßennamen von heimischen Vögeln und Kleintieren, der droht, unsere Städte zu erwürgen. Nein, lassen wir die Idioten bitte beiseite, wenn wir von Scheinwelten reden ! Man kann jedes Konzept sofort aus den Angeln heben, wenn man allein auf die Idioten blickt, die sich seiner angenommen haben. Sehen wir uns lieber das fröhlich-überraschende Zusammenspiel von Schein und Wirklichkeit an, das uns die Scheinwelt des Internets anbietet :
Ein wenig glauben wir ja zuletzt immer an unsere Vorstellungen von uns selbst, d.h., wir leben immer in der Täuschung, ein wenig diejenigen zu sein, für die wir uns bloß halten. Besonders gut kennen wir das von den anderen, wenn wir feststellen, für wen die sich alles halten, was sie dann aber so gar nicht darstellen. Gut, und ebenso ist es natürlich bei uns selbst : wir haben Vorstellungen von uns, die eben nur Vorstellungen sind, aber keine Wirklichkeit. Nehmen wir also den Musiker. Immer hat er sich vorgestellt, Musiker zu sein, seine Lieder aufzunehmen, die andere dann anhören könnten. Das war aber nie wirklich so ! Denn da war die liebe Wirklichkeit, und die hatte da ganz andere Vorstellungen davon, was unser Musiker war - nämlich : kein Musiker, da er ja keine Musik machte. Zumindest konnten andere sie nicht anhören, und was wir innendrin
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auch noch sind, hat die Wirklichkeit noch nie interessiert!
Wirklich ist wahrscheinlich nur, daß wir atmen, essen und trinken müssen und schlafen. Bei den Gedanken beginnt alles schon problematisch zu werden, wollen wir hart an der Wirklichkeit bleiben. Vorstellungen werden geradezu vage bis zweifelhaft, halten wir sie gegen die Wirklichkeit. Es sei denn, sie finden einen Weg in diese Wirklichkeit hinein. http://www.blueglobe.de hat es geschafft ! Von der Vorstellung zum Weltspiel und von dort in die Wirklichkeit des Internets. Sehen Sie nach. Vielleicht verstehen Sie, wie wir es meinen.
Zum Abschluß aber noch ein Tip an alle unverzagten Technikgläubigen : Wer allein ans Internet glaubt und sich vorwiegend in ihm bewegt, ist ein armer Tropf der keinen Bruchteil der Welt kennenlernen wird, in der er lebt ! Behalten Sie den Überblick, es GIBT eine wirkliche Welt ! Sie findet nicht im Internet statt. ( Hinweis für die letzten Aufrechten : aber auch nicht nur außerhalb des Internets ! )
Jetzt kommt also das Internet daher, die CD erscheint darin und andere haben die Möglichkeit, sie zu bestellen. Solange sie es nicht tun ist aus unserem Beispiel plötzlich ein eben erfolgloser Musiker geworden, doch er IST einer geworden, seine Vorstellung ist zuletzt in der Wirklichkeit aufgegangen und hat diese Wirklichkeit selbst verändert, denn es gibt jetzt einen Musiker in ihr, der zuvor nicht da war. Wirklich ! ( da kann der letzte Aufrechte nur staunen, der immer noch nur das ist, was er immer war und immer bleiben wird : der letzte Aufrechte eben ).
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OHNE WORTE UND GEWICHT
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Man horcht in sich hinein und hört ihn lachen. Bitter, hämisch. Man spürt ihn näherkommen, immer näher, und man hat schon begonnen, hinter den eigenen Eigenschaften und den eigenen Verhaltensweisen zu verschwinden. Nur als Hochernder bleibt man noch übrig. Als Erinnernder. Und doch gelten die Angriffe derer die einen richten einem selbst. Weinende Gesichter, Augen, in denen die blanke Angst, das Entsetzen steht. Man erinnert es. Blickten einen an oder zu einem hin. Man vermag den Kopf nicht mehr oben zu behalten und die Kälte steigt einem über den Scheitel. Milchiges etwas, in dem man treibt, die Klarheit verloren.
Er kommt näher. Bruder, Freund, unversöhnlicher Feind. Früher tanzte ich mit dem Wahnsinn, begleitete ihn mit leichtem Schritt und schrieb ihm Geschichten. Doch der Dämon blieb zuletzt beim Zauberlehrling. Und hörte nie ganz auf. Nie ganz auf. Nur meine Schritte waren manchmal geschwinder. Doch wenn ich ruhte, holte er mich wieder ein. Und nun hör ich ihn kommen.
Das hab ich nicht getan ! ( Und doch hab ich es getan, ebenso,
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wie es mir widerfuhr ). Die Erinnerungen sprechen englisch, doch ich verlerne auch die Sprache meines Königreichs und meiner Herzblumen. Sprache, in der wir sangen und träumten. Der Wahnsinn spricht deutsch. Nie war ich ihm so fern wie im langen Jahr in meinem Königreich.
Man will einfach nur vergessen, daß es die Ungeheuerlichkeiten gibt und man sie gesehen hat. Bomben auf Behausungen, schneller, beiläufiger Tod für Wehrlose, in Büchern, in Filmdokumenten, in der Zeitung. Ausgelöschte Dörfer, in denen noch ein paar herrenlose Schweine umherirren. Blut rinnt über die Hand der Mutter. Entsetzlicher Frieden, den es nie gab, der immer eine Lüge blieb. Jetzt höre ich den kommen, der aus meinen Kopf ein ausgelöschtes Dorf macht.
Angegriffen werden, ratlos sein, ohne Gegenwehr, man wird aus seiner Heimat geworfen, die es schon lange nicht mehr gibt. Beschämt. Gedemütigt. Welche Haltung wahrt man noch ? Warum bleibt mein Kopf noch der höchste Punkt meiner Gestalt? Es wird unbegreiflich und die Handlanger nähern sich, die doch |
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auch nur das Falsche tun können. Sie werden Gericht halten, ich ahne es und stehe unbeteiligt und matt. Ich signalisiere müde mein Einverständnis, die Figuren des Wahnsinns fortbringen zu lassen. Ich verstehe es nicht, denn einer bleibt ja doch zurück : der Wahnsinn selbst.
Fände ich Türen, ich schlösse sie so rasch ich kann. Doch wie lange schon verlassen gähnt mein Haus fensterlos und ohne Tür und Riegel. So kauere ich wortlos in den verlassenen Räumen, die einmal das Leben kannten und warte. Hör seine Stimme sich nähern und weiß, daß es kein Entrinnen mehr gibt. Und eine abgrundtiefe, schwarze Furcht hat mich ergriffen, wie ich sie nie kannte. Sich nicht mehr behaupten zu können. Nach so vielen Katastrophen ist die wirkliche, die letzte große Katastrophe noch gar nicht geschehen. Ich erwarte sie. Und sie wird kommen.
Den Schlaf erreiche ich nicht mehr. Damit er alles fortwischt. Ich atme einmal noch tief durch, doch meine Schilde sind zerhauen. Narrentanz, der wild um mich beginnt und dem ich nicht mehr folgen kann. Doch der |
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Kreis, den er um mich bildet, hat sich geschlossen.
So schaue ich in alte Horizonte, hier, über den Dächern und weiß, daß ich sie nicht mehr erreichen werde. Das Spiel ist aus, verloren, und seine Regeln gelten hier nichts mehr. Die Fensterhöhlenaugen ausdruckslos. Finster. Kein Leben regt sich hinter ihnen, nur ein Tod.
Die Worte fließen bleiern in die Stille und sind verloren. Sinnlos, die Hand auszustrecken, es nimmt sie keiner. Der Blick zum Fenster über vier Etagen wird ein stummer Schrei, vor dem ich erschrecke. Und noch einmal such ich den Schlaf, den Freund, den schelmischen Gesellen, der mich als anderen erwachen läßt. Ich schließ die Läden auf diesen Tag, als seis mein letzter. Will ihn vergessen, will träumen, ein anderes Leben gelebt haben. Ich spür ein Lächeln auf meinen Lippen und weiß für den Moment nicht, ob es der Wahnsinn ist, der es mir schickt. Ich weiß nichts, ich spür es nur. Bin ohne Worte und Gewicht.
Und hör ihn kommen.
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HOFFNUNGSSCHIMMER IM ELEND
Berlin Kreuzberg gehört dem Hund. Die Oberfläche seiner Gehwege wird täglich mit einer garantiert frischen, nahezu nahtlosen Hundescheißedecke bedeckt. Die Bevölkerung müht sich, frei bleibende Stellen mit Zigarettenkippen, zerdrückten Bierdosen, Pappverpackungsfetzen und sonstigem Müll zu schließen. Doch es gelingt trotzdem nicht immer, die Oberfläche von Straßen und Gehsteigen völlig zu bedecken.
Zudem noch hat eine Bewohnerin des Hauses 71 in der Graefestraße mittels eigener Initiative einen geradezu provozierenden Fremdkörper in die nahezu perfekt funktionierende, flächendeckende Oberflächenveredlung des Stadtteils hineinkomponiert : Der Gehweg vor diesem Haus, ursprünglich eine normalverschmutze, also völlig unauffällige Zeile in der Straße weißt ein Quadrat mit Erde, eine kleine Rabatte auf. Diese miesgrau-braunen Rabatten aus faulender Erde, die zur Straße hin in die Gehwege eingearbeitet sind und die die Stadt aus Kostengründen längst nicht mehr begrünt, werden von der Bevölkerung normalerweise als |
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behälterlose Mülltonnen benutzt ( manchmal finden sich dort bizarre Fundstücke, Teile angebrannter Sofas oder verfaulte Wintermäntel etwa). Nun hat jene Bewohnerin eine solche Rabatte mit einem kleinen Holzzaun umgeben, in mühsamer Arbeit die seit Jahren gewachsene Schicht aus teilweise bereits zerstäubtem Hundekot, Stoffetzen und vergohrener Pappe abgetragen und Blumen und Sträucher gepflanzt. Sie hat einen richtigen kleinen Garten vor dem Haus entstehen lassen, was unseren Beifall und unsere uneingeschränkte Hochachtung verdient !
Die Bevölkerung, die natürlich einfach nicht in der Lage ist so einen kleinen Rabattengarten als solchen zu erkennen, ( wo hat man denn so etwas je schon gesehen !? ) benützt diese Gartenrabatte natürlich weiter in der gewohnten Weise : als behälterlose Mülltonne. Der eine oder andere mag sogar durch den Zaun der sie umgibt zu dem Gedanken hingerissen werden, es handle sich um einen befestigten Müllplatz. Jedenfalls fischt unsere wackere Mitbewohnerin jeden Tag Papierfetzen, |
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Bierdosen und anderen Müll zwischen den Bonsai-Sträuchern und Frühlingsblumen aus ihrem kleinen Beet heraus und lächelt geqält, wenn man ihr dabei vor dem Haus begegnet und ihr Mut und moralische Unterstützung zuspricht. Sie hält eine kleine, abgerundete Stichschaufel in der Hand, wie wir sie von Gartenarbeiten kennen. Jedoch nicht, um die Erde umzugraben oder um Blumenzwiebeln zu setzten. Nein. Vielmehr dient das schlichte Freizeithandwerksinstrument dazu, die frischen Hundekotknollen aus dem Beet zu entfernen. Nur mit einem hat die stolze Gärtnerin kein Problem : gedüngt wird ihre Parzelle leidenschaftlich und völlig unendgeltlich : von Hunden und Betrunkenen !
Jedesmal wenn wir an diesem Gärtchen vorbeikommen freuen wir uns an seiner Farbenvielfalt, dem dunklen Grün der Sträucher, dem Rosa und gelb der Stiefmütterchen, und wir ziehen den Hut vor dem Mut und dem geradezu klassischen Trotz unserer Mitbewohnerin. Einem Trotz und Willen zum Respekt vor dem Leben, der zuletzt den Menschen erst zum Menschen |
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macht und uns den Rest eines Hoffnungsschimmers für die Menschheit vegönnt. Wir selbst würden so eine Sysiphosarbeit beim besten Willen nicht aufbringen und sind gespannt, wie lange sie es noch durchhält. Jedesmal wenn sie uns mit ihrem Gartenschäufelchen begegnet ist sie dem Aufgeben wieder etwas näher gekommen und wir loben sie, so gut wir nur können. Wir erwägen, Führungen durch den Kiez zu ihrem Gärtchen zu organisieren, man könnte etwa Touristenbusrouten umleiten, es gäbe so viel schöne bunte Fotographien in japanischen Poesiealben her ! An die Mitbewohnerin sollte eine Verdienstmünze vergeben werden oder das Fernsehen könnte doch mal..., oder wenigstens das Bezirksamt ! Wenigstens wir wollen Frau Tzschaksch und ihrem kleinen Garten an dieser Stelle ein Denkmal setzen, wir wollen unseren Dank und unsere Anerkennung aussprechen für ihre Initiative, die unser Leben ein klein wenig verschönert hat. Denn eines schönen Tages wird dieses Kleinod des Kiezlebens vom Hundekot der Zeit wieder bedeckt sein und im Vergessen der Geschichte versinken. Amen.
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WETTERLEUCHTEN |
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Die wissenschaftliche Chaostheorie besagt, verkürzt ausgedrückt, daß es dem Menschen kaum möglich ist, Vorgänge vorherzusagen und noch weniger, sie zu beherrschen. Diesen Grundgedanken, und das versteht sofort ein jeder, leiteten die Wissenschaftler aus der Wetterbeobachtung und dem Versuch ab, für die komplizierten vielfältigen Phänomene der Wetterentwicklung mathematische Formeln zu finden, mit Hilfe derer die Komplexität der Wetterphänomene berechenbar, also auch vorausberechenbar sein würde.
Wissenschaftler der Chaostheorie haben den Nachweis erbracht, daß wir nach all den vielen Jahren des großen Wissenschaftsenthusiasmus unseres Jahrtausends zwar stolz auf dem Mond eine Flagge gehißt haben, sich unser Wissen um die Vorgänge in der physischen Welt jedoch immer noch auf ein fast lächerliches Minimum beschränken. Erdbebenforschung, die Erforschung von Meereswellen, Zukunftsforschung und die Bemühungen der Ökologie finden alle sozusagen im Kinderzimmer statt.
Es beruhigt uns hier beim Weltspielspiegel natürlich ungemein, daß selbst hochkarätige Nobelpreisträger angesichts der großen Fragen der Menschheit lächelnd mit den |
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Schultern zucken. Es ist ja so, daß unsere Hordenchefs immer nur dann genau wissen, wie sich eine komplexe Sache entwickeln wird, wenn sie gerade Krieg führen. Im Krieg gilt die Chaostheorie nicht ! Da wird von gewissen Vertretern der menschlichen Spezies plötzlich ganz genau gewußt, warum welches Städtchen bombardiert werden muß, und natürlich auch gewußt, daß es überhaupt bombardiert werden muß !
Dieser kleine, aber entscheidende Widerspruch zwischen Wissenschaft und Militär läßt sich vielleicht verkürzt so darstellen : die Menschheit ist, immer wenn sie sorgfältig nachdenkt, durchaus zu erkennen in der Lage, daß sie in keinster Weise Herr derselben ist. Erst wenn wir uns auf unsere Herkunft aus den Höhlen erinnern, haben wir wieder die Keulen in der Hand und dreschen los, weil das ja so fürchterlich nötig ist und uns auch immer einer sagt, daß er weiß, daß es sein muß. Und dann macht es ja auch so ein bißchen Spaß, nicht wahr ? Bumm bumm. Die alte Sehnsucht der Menschen nach einer gerechten Welt hat da eine ganz simple Antwort parat : alle Bösewichter einfach fortbomben. Leider wird an diese Lösung, die genau besehen gar keine ist, weil sie in dieser Simplizität nicht durchführbar ist wohl aufgrund der Macht der Sehnsucht allzu schnell geglaubt. Die zuckenden |
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Schultern sehen wir dann wieder, nachdem es viele viele Tote gegeben hat und die Sache mit dem Fortschaffen der Bösewichter auch nicht so recht geklappt hat und schon gar nicht die Errettung der geplagten Unschuldigen.
Gerade im Fall des Holokausts muß man leider davon ausgehen, daß die Existenz der Vernichtungslager den aliierten Regierungen früh bekannt war und sie sich eigentlich schon fragen lassen müssen, warum man, z.B. die Bahnlinien in diese Lager nicht bombardierte, dafür aber jahrelang und mit goßer Sorgfalt viele Städte. Das eigentliche Problem ist natürlich, daß sich die Militärs und die Regierungen im richtigen Moment solche Fragen nicht stellen lassen und daß es, schon lange vor der kriegerischen Auseinandersetzung soweit gekommen ist, daß einer mit der Keule in der Hand, ( und nicht etwa ein Denker ) der Hordenchef geworden ist, der selbst eben nur die Sprache der Keule versteht. Ein Problem der Aufgabenteilung in der menschlichen Gesellschaft, je nach der individuellen Neigung, das sich kaum lösen läßt. Selbst Aristoteles hat sich daran schon probiert mit seiner Forderung, daß man eigentlich die Philosophen dazu zwingen müßte, Staatsmänner zu werden ( zwingen, weil es in der Natur ihrer Sache liegt, daß sie an weltlicher Macht kein Interesse haben. Und damit ist es ja schon |
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gesagt : es geht nicht ! ).
Und so, wie die Chaostheorie erkannt hat, daß komplexe Vorgänge nicht vorhersehbar sind müssen wir hier beim Weltspielspiegel jetzt erkennen, daß uns dieser Artikel wieder in Bereiche entführt hat, an die wir mit keinem Gedanken dachten, als wir ihn begannen. Wir hatten heut früh im Radio nur etwas von der Chaostheorie gehört und der Gedanke an das Chaos hatte sich in uns festgefressen. Eigentlich wollten wir davon schreiben, wie sehr ja gerade das Wetter uns Menschen beeinflußt. Und wenn man nun das Wetter schon nicht voraussagen kann... In diese Richtung wollten wir gehen und es ist wieder eine ganz andere geworden. Ebenso mag es mancher großen Idee und Initiative gehen : dahin wo sie geriet, wollte sie gar nicht, nur leider war das nicht vorauszusehen. Klar, zunächst hörte sich alles sehr klug anund man plante und machte sich auf und ging überzeugt und durchdacht zu Werke. Bis man dann schulterzuckend eingestehen mußte, daß unter den “Gegebenheiten der Realität“ dann alles doch anders verlief, als man gedacht hätte. Oder war es wegen des Wetters?
Wohin treibt uns wohl dieser Tag noch ? Denken wir nicht allzu lange darüber nach ! Da draußen, vor dem geöffneten Fenster ist die Antwort.
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MILDE BLUMEN DER EINSAMEN TÄLER
Spanien verhökert seine Küsten, wie ein habgieriger Erbe das Familiensilber. Was mag man für eine mit kleinen Eigenheimen zugekleisterte Bucht bekommen ? 10 Milliarden ? Da baut die Baufirma, da produziert die Möbelindustrie und die Supermärkte in den kleinen Einkaufszeilen werden vollgestopft mit Salatköpfen aus der nahen Lebensmittelproduktion. Und auf den noch freien Hügeln sieht man bereits die neue Infrastruktur vorgezeichnet : das Hügelgrün zerfurcht, wo die neuen Straßen hinkommen. Meisenweg, Finkenweg, Drosselsteig. Narürlich auf spanisch, damit der paneuropäische Häuslesbesitzer nicht ganz vergißt, wo er eigentlich ist.
Hinten im Land erheben sich die Täler gegen die Sierra. Die Sierra hat großes Glück. Ihr fehlt etwas : das Meer, auf das alle in Europa so wild zu sein scheinen, daß sie übersehen, wie häßlich die Umgebung ihrer Häuser ist. Und so fährt man durch die Täler der Sierra still dahin, windet sich um Abgründe, steigt steil oder fällt rasch. Sehr mächtig sind sie nicht, die Ausläufer der Sierra und so sind die Täler niemals sehr weit. Eher überraschend
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fällt der Blick nach einer Kurve um einen Bergrücken in ein neues Tal.
Und jedes dieser Täler ist angefüllt von Blumen, Büschen, Sträuchern und Kakteen. Die Täler scheinen sich in ihrer geologischen Bodenformation zu unterscheiden. Oder ist es nur der unterschiedliche Einfallswinkel der Sonne oder die unterschiedlichen Regenmengen ? Auf alle Fälle führen die Unterschiede dazu, daß jedes Tal seinen ganz eigenen Pflanzenbewuchs aufweißt. Man fährt durch verschiedene Paletten von verschiedenen Malern. Und jedes dieser Täler besitzt eine Blume, einen Busch, ein Gewächs, das die anderen Täler nicht kennen.
Rotbrauner Boden und darauf die knallgrünen Zitronenbäume. Graubrauner Schiefer, an dem gelbe und rote Sträucher hängen. Aus Steinmauern drängen mattgrüne Sträucher, wie Gewürze. Man schaut und schweigt. Man fühlt sich schuldig, daß man so viel Schönheit erst jetzt zu Gesicht bekommt. Wo war man all die Jahre gewesen ? Wo verbringt man seine farblose Zeit ? Die stille Schönheit Blumen in den |
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Tälern ist unaufdringlich und schweigsam.
Sie blühen für den Wind und gegen die brennende Sonne, die ihr Leben in der Sierra schnell auslöscht.Nur die Wüste wird bleiben, die sie bedecken. Man ahnt, wie unschätzbar ihr Wert in diesem wasserlosen Land wird. Man ist dankbar und leicht dumpf in der Vorahnung der Zertsörung von so viel Schönheit durch einen unbarmherzigen Frühsommer.
Vorn am Meer tobt das Sonnenleben der Vielen. Ihre Sonnenbrillenkultur löscht ganze Küstenzüge aus, die Betoncafés stehen dumm und eng. Freizeitindustrielle Sonneschirmchenwälder kleben gierig möglichst nah am Wasser, daß es klumpt, als seien sie die Hügel heruntergefallen und zu einer gigantischen, kurzbehosten Abfallhalde an der Küste zusammengeschoben worden. Das Meer rauscht fast schon blöde dagegen an, stolz, daß so viele nur seinetwegen gekommen sind. Man wendet sich ab und sieht die Häuslesbauer die Hügelzüge in eine küstenlange Vorstadtwüste verwandeln. Man sehnt sich zurück in die dünnbesiedelten Täler, zu den kleinen, weißen
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Städtchen an schwierigen Hängen, zu den Zitronenhainen und den schweigsamen Blumen, die so kurz nur blühen dürfen.
Und doch ist es gut, daß sie von dem bißchen Regen leben, der hier fällt. Denn alles Trinkwasser, das an diesen Küsten bereitet werden kann, wird in die Eigenheime gepumpt. Die Wassermenge nur eines ihrer Swimming Pools könnte ein ganzes Tal begrünen. Doch die Blumen lebten nicht mehr lange, hingen sie davon ab.
Und so gehen meine Augen in den hellen Himmel und suchen nach Erinnerungen an das, was sie dort sahen, die milden Farben, die still singende Buntheit über den knöchernen Böden, das Sirren der schweigenden Sträucher an harten Steinmauern im Wind . Doch die Stadt ist laut und macht schnell vergessen. Ein Vogel singt über den Dächern und begrüßt einen lärmenden Abend. Meine Augen suchen diesen Vogel ohne daß ich es weiß, und erst die leichte Traurigkeit ihn nicht finden zu können sagt mir, daß sie es tun. Ich lächle, ich atme, und wüßt ich ein Gedicht, so sagte ich es jetzt vor, für die milden Blumen der einsamen Täler der spanischen Sierra.
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Vorne am Strand sind die Kühe. Kühe muß man anbellen. Dabei muß man allerdings sehr vorsichtig sein, denn sie haben gerade ganz ganz junge Kälber dabei und verstehen keinen Spaß. Dann sind diese langweiligen Brocken plötzlich ziemlich flink, obwohl sie sich sonst kaum bewegen. Man kann aber auch den Strand hinunterrennen, zusammen mit den Freunden und nach Pferden und Eseln schaun. Die muß man dann natürlich auch anbellen. Manchmal rennen sie dann weg. Manchmal. Viele lassen sich aber einfach nicht beeindrucken, schlagen nur einmal mit den Hufen nach einem und man trollt sich besser. Dann tollt man halt mir den Freunden im Sand umher, daß er spritzt. Oder man beschnüffelt, was da die Möwen liegen lassen haben, die man eben verjagt hat. Man schließt sich für einige Meter Strandspaziergängern an und beschnüffelt sie. Manche haben dann Angst, manche bücken sich herunter und sprechen mit einem. Doch die meisten sind zuletzt langweilig oder sie schicken einen weg. Auf dem Grundstück tummelten sich mehrere Hunde. Man frühstückt auf der Terrasse vor der Ferienwohnung und gibt ihnen ab und zu einen Happen. Hunde, die Besucher und die gelegentlichen Happen gewöhnt sind und verschwinden, wenn das Frühstück beendet ist. Wir gingen am Strand entlang und erschraken, als einige hundert Meter von der Ferienwohnung entfernt plötzlich einer dieser Frühstücksgäste rennend von hinten neben uns auftauchte. Er schnappte spielerisch nach meinem Unterarm und ich ließ mich auf das Spiel ein : rennen, Kurve schlagen und ihn ins Leere laufen lassen, Wettrennen, das er immer mit großer Leichtigkeit gewann, Arm schnappen lassen, auf die Vorderläufe ducken und plötzlich losrasen, den Arm ausstrecken beim Rennen und wenn er hochspringt wegziehen. Lachen. Weiterrennen und sich am Arm erwischen lassen. Er biß nicht zu, er hielt leicht fest und ließ schnell wieder los. Ein schönes Tier. Ich mag keine Hunde. Sie sind mir zu laut, zu zudringlich, zu nervös. Dieser nicht. Ich setzte mich in den Sand. Er setzte sich hinter mich und lehnte sich nur ganz leicht gegen meinen Rücken. Ich ließ ihn an meiner Hand schnüffeln und berührte ihn. Zur Seite drehen, den Bauch kraulen lassen. Aufhören. Unsere Blicke. Wir verstanden uns auf den ersten Blick. Ich sage das so und meine es wirklich ernst. Von ihm kein Laut. Ich war es, der auf ihn einredete. Er hörte zu, blickte dabei in die Brandung und zu mir her, wenn ich aufhörte zu reden. Seine Augen. Sprich weiter. Abends, als wir auf der Terrasse saßen und uns unterhielten, lag er einige Schritte entfernt bei uns und schlief. Als wir in die Wohnung gingen um zu schlafen, legte er sich vor unsere Tür. Er bettelte nicht, daß wir ihn hereinlassen sollten. Kein Winseln, kein Bellen, kein Scharren. Er legte sich still dort auf die Schwelle. In der Nacht kam ein Sturm. |
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Regen schlug fast senkrecht gegen das Fenster, die Wut des Windes in den Bäumen. Wir standen noch einmal auf, um zu sehen, ob er noch auf der Schwelle läge. Es war mitten in der Nacht gewesen, als wir uns hingelegt hatten und wir wußten nicht, ob das Haupthaus des Grundstücks noch offen war, damit er hinein könnte. Er lag nicht mehr auf der Schwelle, doch er kam sofort um die Hausecke, als wir das Fenster öffneten, um nach ihm zu sehen. Er hatte in einer Niesche Schutz gesucht, wo eine Gartenmauer auf die Hausmauer zuläuft und sie schließlich erreicht. Wir nahmen ihn hinein. Er war naß. Wir trockneten ihn ab und gaben ihm zu essen. Kein Laut, nur sein Blick. Dankbarkeit. Erleichterung. Stummes Schwanzwedeln. Er schlief auf unserem Sofa und am Morgen erzählten ich es der Besitzerin der Ferienwohungen. Sie sagte etwas über den Hund doch ich verstand ihren starken andalusischen Akzent nicht. Ihren Mann, etwas später, verstanden wir. Dieser Hund gehörte gar nicht zu dem Haus. Er sei ein perro abandonado, ein herrenloser Hund, von denen es 4 oder 5 im Dorf gebe. Fast unfaßbar. Er sah gut ernährt aus, kerngesund, ja : gepflegt. Er trug ein Halsband mit einem Schild ohne Eingravur. Er war zurückhaltend und aufmerksam, “gut erzogen“ nannten wir es, weil einem nichts besseres einfällt. Wir nannten ihn Hugo Hund, aufgrund seiner traurigen, warmen und aufmerksamen Augen und seiner aufrechten Haltung. Er kam mir manchmal vor, wie ein tragikomischer Stummfilmstar. Sein Schweigen. Er bellte so selten. Er machte sich mit lautlosen Gesten verständlich. Es erschien uns, als sei er noch nicht lange abandonado. Wenn wir am Vormittag mit dem Wagen wegfuhren, rannte er aus Leibeskräften hinter uns her, bis er aufgeben mußte. Ich sah ihn im Rückspiegel stehen : erschöpft keuchend, mutlos und doch aufrecht. Es brach uns das Herz und doch war er ja nur ein fremder Hund. Perro abandonado. Wenn wir nach Einbruch der Dunkelheit zurückkamen begrüßte er uns mit stummer Freude, er bellte nicht, er ließ allenfalls so etwas wie ein leichtes Fiepen hören, wie man es vielleicht von jungen Welpen vermuten würde. In einer Nacht, als ich im Bett wegen der schlechten Matraze keinen Schlaf fand und in die Küche ging, machte er mir sofort auf dem Sofa Platz und legte sich davor. Ich schlief, meine Hand auf seinem Rücken, die er machmal vorsichtig leckte. Wenn er sich mit einem grunzenden Geräusch zusammenrollte, antwortete ich ihm mit einem ähnlichen Geräusch. Tat ich einen tiefen Atemzug in der Nacht, antwortete er ebenso mit einem tiefen Atmenzug. Am Morgen machte ich Kaffee und brachte Karin ein Glas
davon ans Bett zum Aufwachen. Er kam vorsichtig mit, doch betrat das
Schlafzimmer erst nach Aufforderung. Er ging ans |
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Bett und schnupperte vorsichtig an Karins Wimpern. Er berührte sie nicht. Er blieb lautlos, schaute zu mir hin und wieder zu ihr und wedelte mit dem Schwanz. So ein Hund war das. Die ersten Tage, die er bei uns verbrachte schlief er fast durchgehend auf dem Sofa. Er muß sehr müde gewesen sein und muß es sehr genossen haben, einmal in trockener Umgebung zu schlafen, zumal es in unseren Tagen am Meer viel regnete. Später schlief er weniger, ging auf einen seiner Erkundungsgänge und kam erst nach einer oder zwei Stunden wieder zurück. Fuhren wir am Vormittag wieder weg, folgte er uns wieder, doch nicht mehr ganz so verzweifelt. Er blieb im Rückspiegel sichtbar früher stehen und blickte uns mit erhobenem Kopf nach. Wir machten lange Strandspaziergänge und er kam mit. Er streifte weit umher und war oft nicht in Sichtweite. Einmal kamen Leute vom Dorf mit ihren kraftstrotzenden Hunden, in ihren Augen lag die Sicherheit des Hundes mit einem Herren, dieser unerbittliche, wichtigtuerische Blick, den ich an Hunden oft so hasse. Hugo Hund hatte sichtlich große Angst vor diesen Hunden, doch er rannte nicht weg, Er wollte bei uns sein. Er lief plörtlich zwischen uns um unseren Schutz zu haben. Die Dorfhunde setzten ihm trotzdem zu. Er tat etwas sehr merkwürdiges : er stellte sich mit vor Angst eingekniffenem Schwanz vor den größten der Dorfhunde, der sich ihm bis auf eine Handbreit näherte und bellte ihm ins Gesicht. Ein fast verzweifeltes, bedeutsames Bellen. Ihr dürft mir nichts mehr tun, ich habe jetzt auch meine Menschen ! Ich schickte die Dorfhunde mit Lauten und Bewegungen fort und sie schlossen sich ihren Leuten wieder an, die vorbeigegangen waren. Hugo schaute mich an, nieste, und blieb noch eine Weile zwischen uns. Wir wußten, daß wir ihn nicht mitnehmen konnten. Unser
Leben, zumal mitten in der Großstadt, hat keine Zeit für einen Hund. Wir
erwogen es aus Rührung, doch es war aussichtslos. Wir sind beide berufstätig
und er wäre viel zu oft allein. In unserem Stadtteil gibt es nur neurotisch
agressive Hunde und viel zu viele davon. Wo er lebt, ist er frei zu tun, was
er will. Er ist den ganzen Tag draußen. Die abandonados werden anscheinend
vom ganzen Dorf ab und zu gefüttert oder sie leben von den Abfällen. Sehr
miserabel sahen sie alle nicht aus. Er sah so gut aus, daß wir es erst gar
nicht hatten glauben wollen, daß er ein abandonado sei. Er hat es also nicht
ganz so schlecht dort. Am Strand in Bolonia hat er seine Kumpels. Die anderen
abandonados. Manchmal sah man sie in Konferenz am Strand umherziehen und ihre
Hierarchien untereinander abstecken. Er war dann auch meist dabei. Einmal sah
ich den abandonados bei ihrem Spiel am Strand zu, an die Gartenmauer gelehnt.
Er war nicht dabei, er schlief in unserer Wohnung. Dann kam er, setzte sich
zu mir |
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auf die Gartenmauer und sah mit mir den anderen abandonados zu. Manchmal sah er zu mir her und ich weiß nicht, was dabei in ihm vorging. Zuletzt sprang er von der Mauer und verschwand. Ich blieb noch stehen. Er blieb verschwunden, doch tauchte auch nicht unten am Strand unter der Gruppe der abandonados auf. Ich weiß nicht, was er damals getan hat. Ob er sich unentschlossen der Gruppe etwas näherte und doch nicht ganz hinging. Ob er mich und die Gruppe beobachtete. Oder ob er einfach allein seiner Wege ging. Am letzten Tag, kurz vor unserer Abreise kam er von einem seiner Ausflüge zurück und brachte einen seiner Kumpels mit. Einen kleinen, zierlichen, schwarzen perro abandonado. Wir hatten die beiden manchmal zusammen am Strand gesehen. Sein Freund war, wie er, ein sehr zurückhaltendes, stilles Tier. Ein hübsches Tier, und wir mochten ihn auch. Hugo Hund ließ zu, daß der andere mit uns Kontakt aufnahm und es hatte den Anschein, daß er ihm aber immer bedeutete, daß wir seine Menschen waren. Es war ein rührender Vorgang, er zeigte seinem besten Kumpel seine Freunde. Wir fragen uns heute, ob er das getan hat, weil er an unserem Packen gespürt hatte, daß wir gehen würden. Ich brachte die Sachen zum Wagen und er lief hinter mir her. Ich schloß hinter mir das Gartentor, da ich nicht wollte, daß er bei unserer Abfahrt dabei wäre. Er sah mir kurz durch die Stäbe des Gartentors zu, wie ich den Wagen belud und lief dann zurück in den Garten und ums Haus herum, um mir auf dem Parkplatz davor zu begegnen. Er erschien aber erst auf dem Parkplatz, nachdem ich wieder durchs Gartentor zum Haus zurückgegangen war. Er sah, neben dem Wagen stehend, zu mir her. Ich rief ihn. Doch er kam nicht. Er blieb in seiner aufrechten Haltung stehen, Ohren und Schwanz bewegten sich im Wind, so wie er immer im Rückspiegel dagestanden hatte, wenn wir auf einen unserer Ausflüge weggefahren waren. Ich ging zurück in die Wohnung, um die restlichen Sachen zu holen und dachte, ich würde ihn ja beim Wagen wiedersehn. Doch als wir herauskamen, war er fort. Wir riefen nach ihm und sahen uns um. Doch er blieb fort. Wir fuhren sehr schweigend los. Ich blickte laufend in den Rückspiegel, doch er erschien nicht. Wir fragten uns, ob er wohl mit seinem besten Freund zum Strand gelaufen wäre, zu den anderen abandonados. Ob er genau begriffen hatte, daß wir nicht zurückkehren würden. Ob er den Abschied leichter machen wollte. Er fehlt uns. In manchen Nächten träume ich von ihm und erwache traurig. Wir denken an ihn und fragen uns oft, wo er wohl schläft, ob es kühl ist dort unten an der andalusischen Küste, ob es regnet. Vielleicht haben wir einen sehr großen Fehler gemacht. Doch wir wissen es nie so genau. |
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Ein Silberpapierchen, so eines, wie man es oben aus einer Zigarettenpackung zieht, war mir in die Einkaufstüte gefallen und als ich vor dem Abfallbehälter an der Straßenlaterne mit den Fingern nach ihm fühlte, machte ich die verblüffende Entdeckung, daß ich es nicht erfühlen konnte, da ich momentan ein Pflaster über der Fingerkuppe trage, denn ich habe mich vor einigen Tagen in diese Fingerkuppe geschnitten. Was aber war denn daran so verblüffend ? Nun, ich hatte die faszinierende Feinheit des Gespürs in so einer Fingerkuppe einfach vorausgesetzt, die normalerweise ja tatsächlich in der Lage ist, etwas so Feines und Leichtes wie ein Zigarettenpapierchen mitten unter zusammengewürfelten Einkäufen in einer Tüte zu erfühlen. Da sie mir aufgrund des Pflasters nun plötzlich nicht zur Verfügung stand, fiel sie mir wieder auf und ich fand diese Fähigkeit in dem Moment : sehr verblüffend. Da haue ich mit Wucht meine Finger auf die Tischplatte und
ein Druck kracht in die Fingerspitzen, der die leichte Berührung mit einem
Papierblättchen vielleicht um ein millionenfach Vielfaches übersteigt.
Gottseidank kommt der Impuls dieser Berührung in meinem Kopf nicht mit einem |
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millionenfach Vielfachen der Berührung des Papierblättchens an ! Der Schmerz würde mich sofort niederstrecken ! Da stoße ich mir mein Knie an der Kante eines Küchenschranks und dieser Schmerz streckt mich beinahe nieder. Und trotzdem war er nicht so alarmierend wie der kleine Schnitt in die Fingerkuppe, der viel weniger weh tat. Schmerz ist etwas Verblüffendes : der klitzekleine Schmerz einer Schnittwunde kann uns alles vergessen lassen und alle Alarmglocken in unserem Kopf aufschrillen lassen, während uns ein viel größerer Schmerz, z.B. wenn wir uns den Arm bös anstoßen, kaum aus der Ruhe bringt. Der Grund ist offenbar : ein Schnitt muß sofort versorgt werden, man könnte sich eine böse Entzündung an ihm holen, während der gestoßene Arm nur lästig ist und sich der Mißstand schon von allein erledigen wird. So sind wir schon alles andere als objektiv mit unseren
eigenen Schmerzen. Und zwischen den Menschen gibt es dann ja noch große
Unterschiede. Jeder Einzelne reagiert anders auf einen Schmerz. Ich habe
Menschen erlebt, die nach dem Tod eines Partners, den sie aufrichtig liebten,
gefaßt und aufrecht blieben, so sehr, daß man fast denken mußte, sie spürten
keinen Schmerz. Und |
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wir alle kennen den Wehleidigen, der aus einem kleinen Schmerzchen eine Tragödie macht, als stehe er unter dem Einfluß schwerer Folter. Oft stehen wir ratlos und überrascht vor den Schmerzen anderer und können nicht nachvollziehen, was sie da erleben, durch was sie da gerade gehen. Stehen vor jemand, den der Schmerz schüttelt, weil er gerade verlassen wurde oder eine schlimme Nachricht erhalten hat. Oder stehen jemandem gegenüber, der in unseren Augen das Gefühl einer zarten Berührung findet, wie die leichte Berührung einer Fingerkuppe mit einem atemzugleichten Zigarettenblättchen in der Einkaufstüte. Liebe und Tod. Flüchtigste Berührung und bleierner Schmerz. Unser Empfinden für Berührungen aller Art ist eine riesengroße Fähigkeit ! Wir erfahren das jeden Tag millionenmal. Und doch werden
wenige unserer Fähigkeiten so schlecht verstanden vom einen zum anderen. Und
mit wenigem wird beim Umgang der Menschen untereinander oft so unerbittlich
und hart verfahren, wie mit unserem Berührungsempfinden. Das gilt vorallem
für den Fall der feineren Berührungen. Im |
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Bereich der leichteren, kleinen Rührungen und Gefühle des Berührens legen wir oft erstaunlich wenig Fingerspitzengefühl an den Tag. Nun, wie sollten wir, wir leben in einer harten, unerbittlichen Welt und können es uns nicht leisten, in jedem Fall lange darüber nachzudenken, was und wen wir in welchem Maße eben berühren, sonst wären wir längst ausgestorben. Wir würden gelähmt bis zur Lebensunfähigkeit würden wir versuchen, uns über jedes Gefühl der Berührung oder über jeden Schmerz klar zu werden, den wir spüren oder bei anderen auslösen. Also tun wir es eben nicht. Es ist verständlich, daß wir es dann natürlich oft auch gerade dort nicht tun, wo es doch ziemlich angebracht wäre. Ohne allzuvie Gedanken zu verschwenden schlagen wir uns durchs Gestrüpp unserer Welt, die eine Welt der Berührungen ist. Wir drängeln uns durch den Vorweihnachtseinkauf in einem Kaufhaus, stoßen uns den Arm an einem Pfosten, und das Zigartettenpapierchen fällt uns in die Einkaufstüte. Wir gehen über die Straße und achten auf den Verkehr und gleichzeitig erfühlen wir mit den Fingerspitzen das Papierchen. Das tun wir. |
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Vielleicht sollte ich nichts mehr sagen. Kein Wort. Keine Träne. Du dort am Himmel, über den Dächern. Es bleibt nichts, nichts als die Leere, die den Kanal hinunterweht, deiner verlorenen Seele nach. Ich kann es dir nicht beschreiben, wie furchtbar es sein kann, weiterleben zu müssen. Für was oder wen, wenn nicht für dich. Sprechen zu müssen, ohne daß du es noch hörst, singen zu wollen, an die gefühllosen Wände, ohne das tiefe Leuchten in deinen Augen je wiederzusehen. Wahrscheinlich wäre es dir egal gewesen hättest du gewußt, daß ich dich brauchte. Du hast es sicherlich nie geahnt, und es war gewiß so gut wie unmöglich, das zu wissen. Ich habe es auch kaum gewußt, höchstens geahnt. Wenn ich dir schrieb, wenn ich an dich dachte. Das tat ich nicht sehr oft. Was tun wir denn oft von den Dingen, die unser Leben wertvoll machen ? Und warum hättest du dich ausgerechnet darum kümmern sollen, was es mir bedeutet, dein Leben ? Hörst du mich ? Schaut deine Seele zurück auf dieses kleine, kurze, windgeschüttelte Leben ? Wo es eine seltsame Verzweiflung gibt, die den Schlaf abbricht, den Frieden der Träume kündigt in ein schreckliches Erwachen, das dein unauslöschliches Fehlen hinnehmen muß ? Oh ich weiß, du kanntest das Fehlen, die nie |
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zurücknehmbare Wahrheit, daß ein Mensch aus deinem Leben getreten war, Finsternis und heulende Wände zur Nacht, nie mehr in diese Augen sehen, diese Stimme hören, es war dir sehr vertraut. Du schenkst es mir heute, weißt du, und es kümmert dich nicht mehr. Manchmal nehme ich dich in die Arme und frag dich, ob der Sturz schrecklich war, ob die Schmerzen noch bei dir ankamen, ob die Nacht deine Freundin war oder aber eine brüllende, gräßliche Todesgöttin, die Nacht, die dich aufnahm und zerriß. Du antwortest nie, wie du oft keine Antwort gabst, du siehst mich abweisend an. Und doch ist da eine Wärme in deinem Blick, die ich kaum in Augen sah. Und eine Tiefe, die mich immer erreichte, unser Geheimnis, unser Schweigen, wir, die Brüder und dort draußen die Welt. Es war einerlei, was wir sagten, wenn wir es zueinander sagten waren es Laute der Vertrautheit, des Respekts, vorsichtige Zärtlichkeiten. Wer sollte das ahnen, nachdem die Schläge Schlagzeilen machten und nach Erklärungen schrien. Wer weiß schon von meinem Einverständnis in diese Schläge ? Und wer würde dieses Einverständnis begreifen können, wenn nicht du. Und du wirst nie mehr etwas begreifen. |
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Hier trage ich dich fort in diese fremde, hohle Zeit, meine Fragen suchen dich bisweilen arglos und dann sind deine Augen nirgendwo zu finden, deine Stimme ist verstummt hinter dem Lärm der Welt und ein bleiernes Alleinsein weht mich an, so kalt, dieses Weiter ohne dich, das ich dir nie werde beschreiben können. Meine Worte haben ihr halbes Gewicht verloren, seit du sie nie mehr lesen wirst. Noch leichter sind sie geworden, noch hilfloser, und sie verbleichen schnell in dieser Welt und verschwinden dann vielleicht in die deine. In diesen dünnen Wind, der deinen Namen noch trägt, doch schon wird er leiser und verklingt. Bald wird ihn niemand mehr hören können. Du konntest ihn hören, du hast mir von ihm erzählt. Wer erzählt mir heute noch von diesem Wind ? Die Welt die dich verloren hat wird dich nicht vermissen. Sie tobt weiter, so, wie du sie kennst, reiht Tag um Tag aneinander wie sie es tat, als du ihr noch dabei zusahst. Sie wird nicht schöner, sie wird nicht schlimmer, sie ist eben die Welt. Sie ist leer von dir und weiß es nicht. Sie nimmt mich fort von dir, schafft unaufhaltsam Zeit zwischen uns und ich treibe in ihr immer weiter von deiner Seele fort. Sie wird uns immer weiter trennen, kühl, gleichgültig, vorlaut. Ich habe ihr nur meine Worte |
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entgegenzuhalten, meine Lieder. Und die haben dich verloren. Ich spreche deinen Namen in die helle Luft der weiten Tage und klatsch dann zweimal in die Hände, wie es die Buddhisten tun beim Gebet. Hörst du es ? Es ist ein freundlicher kleiner Lärm für dich, ein schüchternes Geschenk. Du wärst verlegen und würdest lachen. Du würdest denken, ich sei verrückt geworden. Du würdest sagen : wer hätte das gedacht ?! Doch weißt du, ich muß weiter. Muß diese Stille füllen und diese Welt bestehn. Ich will sie ja bis zu Ende gehen, auch wenn du es nicht verstehst. Und du hast ja recht, es ist bisweilen ekelhaft und würdelos. Grausam. Traurig. Und schenkt einem kein Verständnis, kein Erbarmen. Sprechen zu müssen, ohne daß du es noch hörst, singen zu wollen, an die gefühllosen Wände, ohne das tiefe Leuchten in deinen Augen je wiederzusehen. Für was oder wen, wenn nicht für dich. Ich kann es dir nicht beschreiben, wie furchtbar es sein kann, weiterleben zu müssen. Es bleibt nichts, nichts als die Leere, die den Kanal hinunterweht, deiner verlorenen Seele nach. Du dort am Himmel, über den Dächern. Keine Träne. Kein Wort. Vielleicht sollte ich nichts mehr sagen. |